30. Oktober 2015, 12:25 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Die Schock-Nachricht der Woche für Fleisch- und Wurstliebhaber: Zu viel Konsum davon kann Krebs verursachen. Für den Mediziner Prof. Dr. med. Andreas Michalsen aus Berlin ist das keine Überraschung: Er propagiert schon seit Jahren den Fleischverzicht, um gesünder zu leben. Sollen wir jetzt alle Vegetarier werden? Der Ernährungsspezialist verrät im Interview, dass man sich auch als Vegetarier schlecht ernähren kann.
Herr Professor Michalsen, lassen Sie uns gleich Klartext reden: Essen wir uns krank?
Prof. Dr. med. Andreas Michalsen: „Ja, im Durchschnitt schon! Die deutsche, europäische und nordamerikanische Bevölkerung hat im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte immer weitere Zunahmen von Übergewicht, Fettleibigkeit und Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck zu verzeichnen. Im Durchschnitt ernähren wir uns heute viele schlechter als vor 50 Jahren.“
Woran liegt das?
Michalsen: „Erstens wird kaum noch gekocht, die Menschen haben das Kochen verlernt. Sie kaufen lieber Fertigprodukte und essen Fast Food. Aber leider enthalten diese viel Zucker und tierische Inhaltsstoffe, ein großer Fehler der Ernährungsindustrie. Schauen Sie sich nur einmal die letzten zehn Meter vor einer Supermarktkasse an – eine Katastrophe. Und die Menschen nehmen sich zu wenig Zeit, es wird dem Essen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es soll billig sein und schnell gehen. Wir haben in Deutschland einfach zu wenig Esskultur.“
Ist gute Ernährung eine Geldfrage?
Michalsen: „Das ist eine interessante Wechselbeziehung. In Deutschland in den Fünfziger und Sechziger Jahren war es so, dass die Reicheren sich immer schlechter ernährten. Das gleiche Phänomen beobachten wir jetzt in aufstrebenden Industrienationen wie China und Indien. In den schon länger industrialisierten Ländern ist es heute genau umgekehrt. Schlechte Ernährung ist eher ein Problem sozial schwacher Schichten. Je gebildeter und je mehr Einkommen die Leute haben, desto mehr Bio und weniger Fleisch und Zucker werden konsumiert.“
Gibt es noch Ernährungs-Musterländer?
Michalsen: „Es gab vor Jahren eine Studie namens ‚Blue Zone‘ von National Geografic. Darin wurde untersucht, wo die Menschen am ältesten werden und am gesündesten leben. Demnach sind das vier Gebiete. Die Insel Okinawa vor Japan, die Nicoya Peninsula auf Costa Rica, die Insel Sardinien in Italien und Loma Linda in Kalifornien. Doch mittlerweile wendet sich auch dort das Blatt, es wird sich immer öfter schlechter ernährt. Der einzige Ort wo wirklich alles gut zu sein scheint, ist Loma Linda in Kalifornien. Dort wohnen die Adventisten, das ist eine religiöse Gemeinschaft, die sich überwiegend vegetarisch ernähren und insgesamt einen sehr gesunden Lebensstil pflegen. Sie werden im Schnitt zehn Jahre älter und sind gesünder.“
Heißt das, wir alle sollten uns vegetarisch ernähren?
Michalsen: „Von der Evolution her gesehen ist der Mensch ein Alles-Fresser. Nun gibt es aber zwei Faktoren, die sich ganz stark verändert haben. Zum einen war das Fleisch von ganz anderer Qualität. Zum anderen haben sicih die Menschen täglich überwiegend körperlich bewegt. Heute hat sich beides geändert. Deswegen ist auch die Paleo-Diät Unsinn. Insgesamt essen wir heute viel, zu viel Fleisch, weil es aus Massentierhaltung billig geliefert wird und immer verfügbar ist. Früher war das nicht so. Und es vielen Studien wissen wir, dass je mehr auf Fleisch verzichtet wird, lebt man gesünder. Wenn man die Fleisch-Aufnahme wieder auf den traditionellen Sonntagsbraten reduzieren würde, hätte man schon sehr viel gewonnen. Allerdings ist vegetarisch nicht zwangsweise gesünder.“
Wie meinen Sie das?
Michalsen: „Wenn man ständig nur Eiscreme und Nudeln isst, ist das zwar vegetarisch, aber keine ausgewogene und gesunde Ernährung! Es geht bei gesunder Ernährung ja nicht nur darum, Fleisch weg zu lassen.“
Klingt fast so, als sollten wir besser gar nichts essen. Sie forschen ja zum Thema Fasten. Was bringt der zeitweise Nahrungsverzicht?
Michalsen: „Das Fasten ist extrem spannend weil die Forschung uns seit Jahren immer neue Hinweise gibt, wie gesund es sein kann. Das Grundprinzip, dass man Fastentage oder eine Fastenwoche durchführt, tut dem Körper sehr gut. Durch Studien wissen wir heute, dass das Fasten bei allen rheumatischen Erkrankungen und Entzündungen als Therapie wirksam ist. Genauso bei Bluthochdruck und Diabetes. Momentan wird intensiv erforscht, wie Fasten-Perioden möglicherweise auch Alzheimer, Multiple Sklerose und Krebs vorbeugen können.“
Was bewirkt das Fasten im Körper?
Michalsen: „Durch die dauerhafte und regelmäßige Überernährung sind bei den meisten alle Hormone im Körper, die Hunger, Stoffwechsel und Sättigung steuern an ihrer oberen Regulationsgrenze. Diese Hormone haben aber immer auch noch eine andere Wirkung. Insulin ist ja eigentlich dafür da, die Zellen mit Energie zu versorgen. Wenn das aber dauernd in hoher Menge im Körper vorhanden ist, kann es zu Gefäßverkalkungen führen. Beim Fasten gehen diese Hormone wieder auf ihren Normalwert zurück. Der Körper erhält quasi ein „Reset“ wie beim Computer. Das kurbelt die Selbstheilung an. Das heißt, dass der Körper mit einer unregelmäßigen Nahrungszufuhr wesentlich besser zurecht kommt als mit regelmäßiger. Man sollte also öfter beim Essen auf das gute alte Bauchgefühl hören und sich fragen: Habe ich eigentlich Hunger? Bin ich eigentlich schon satt?“
Was sollte ich beachten, wenn ich meine Ernährung auf vegetarisch umstelle?
Michalsen: „Generell gilt bei jeder Ernährungsumstellung, dass man dem Körper Zeit geben muss. Wer sich ständig von Currywurst und Pommes ernährt und nun plötzlich zwei Tage nur Salat zu sich nimmt, wird sich fürchterlich fühlen. Umgekehrt ist das natürlich nicht anders. Wer plötzlich von vegetarisch auf Sauerbraten und Knödel umschwenkt, hat garantiert eine sehr schlechte Nacht. In der Regel braucht der Körper circa drei Monate bevor sich die Darmflora umgestellt hat. Deswegen sollte eine Ernährungsumstellung auch behutsam erfolgen und am besten in Absprache mit einem Arzt oder Diät-Assistenten.“
Es gibt Theorien, die sagen, dass Rohkost gar nicht so gesund sei.
Michalsen: „Das kann vorkommen. Bei Rohkost ist folgendes wichtig. Natürlich ist es gesund, unverarbeitete Lebensmittel zu sich zu nehmen. Durch Untersuchungen wissen wir, dass ungefähr die Hälfte der Menschen das nicht problemlos verträgt. Wir haben herausgefunden, dass vor allem Menschen, die viel Sport treiben oder körperlich arbeiten, Rohkost viel besser vertragen und sich damit wesentlich besser fühlen als jene, die viel sitzen und nicht so aktiv sind. Im Grunde muss jeder individuell ausprobieren, wie ihm Rohkost bekommt.“
Noch einmal zurück zum Paleo-Hype. Warum ist der Ihrer Meinung nach Quatsch?
Michalsen: „Bei Paleo habe ich grundsätzliche Einwände. Der erste ist recht simpel, wir leben nicht mehr in der Steinzeit. Wir tragen warme Kleidung, wir haben Heizungen und wir bewegen uns weniger. Das Nahrungsprofil der Steinzeit hat nichts mehr damit zu tun, was unser Körper heute braucht. Außerdem weiß keiner genau, was damals gegessen wurde. Das sind alles Spekulationen. Zum Beispiel behauptet die Paleo-Lehre, dass man damals kein Getreide hatte. Das stimmt nicht. Es gibt wissenschaftliche Nachweise, dass bereits in der Steinzeit Samen und Getreide in ihren Urformen verzehrt wurden. Was man aber weiß, ist, dass das Leben damals härter und schlechter war, es keinen Kühlschrank gab, die Menschen früher gestorben sind. Klingt nicht sehr positiv. Und für mich der größte Nachteil, warum man sich besser nicht nach der Paleo-Lehre ernährt, dass zum Fleischkonsum geraten wird. Nun wissen wir aber aus der Forschung, dass hoher Fleischkonsum schlechter ist, vegetarische Ernährung umso besser.“
Also, wie kann ich mich denn nun gesund ernähren?
Michalsen: „Die Grundregeln sind einfach. Viel Gemüse, weniger Zucker, wenig Fleisch, am besten gar keine Wurst, weil die überhaupt keine brauchbaren Inhaltsstoffe enthält. Möglichst selbst und frisch kochen. Die Deutschen essen auch leider viel mehr Obst als Gemüse. Dabei ist Gemüse viel gesünder, Obst enthält von Natur aus Zucker. Bei Fetten geht es darum, gesunde Fette zu sich zu nehmen. Am besten keine Butter und andere tierische Fette, sondern Oliven-Öl, Nüsse, Avocado, also pflanzliche Fette. Wer gerne Power-Food zu sich nehmen möchte, der hat heute eine riesige Auswahl. Superfoods sind Lebensmittel, die wertvolle Nahrungsinhaltsstoffe in sehr hoher Konzentration aufweisen, zum Beispiel Avocados, Granatäpfel oder Walnüsse. Trotzdem muss man jetzt nicht jeder Modeerscheinung hinterher laufen. Es reicht wenn man sich ein paar Leinsamen und Himbeeren ins Müsli mischt. Es müssen nicht unbedingt Chia-Samen und Goji-Beeren zum zehnfachen Preis sein.“
Zur Person
Prof. Dr. med. Andres Michalsen ist seit 2009 Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde im Immanuel Krankenhaus Berlin. Ein Schwerpunkt seiner Forschungsarbeiten ist die Ernährungsmedizin. „Ich bin gelernter Kardiologe, also ich habe mich in den ersten Jahren meiner Karriere fast ausschließlich nur mit Schlaganfällen und Herzinfarkten beschäftigt, dabei immer wieder bei Patienten miterlebt, was eine Ernährungsumstellung positiv bewirken kann. Das ganze Gebiet fand ich irgendwann spannender, als immer nur Tabletten zu verschrieben.“