10. Juli 2024, 14:46 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Haben Sie sich schon mal von einem Ärzt oder einer Ärztin nicht ernst genommen gefühlt? Damit sind sie nicht allein. Eine Studie zeigt, dass Frauen sich häufiger nicht gut behandelt fühlen als Männer. Und die Auswirkungen davon sind deutlich tiefgreifender und offenbaren systemische Probleme. Wie schlimm es um das Thema Frauengesundheit wirklich steht, was sich dringend ändern muss und was wir selbst tun können, erklärt die Berliner Landesvorsitzende des Berufsverbands der Frauenärzte, Dr. Nicole Mattern, im Interview mit Carmen Dörfler.
Dr. Nicole Mattern ist Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie Berliner Landesvorsitzende des Berufsverbands der Frauenärzte. Im Interview sprach sie mit STYLEBOOK über die vielfältigen Herausforderungen beim Thema Frauengesundheit, wie den Gender Health Gap und die Maßnahmen, die dringend nötig wären, um geschlechtsspezifische Unterschiede in der medizinischen Versorgung zu überwinden.
Was ist der Gender Health Gap?
Der Gender Health Gap beschreibt die Unterschiede in der medizinischen Versorgung und Gesundheit von Männern und Frauen. Diese Unterschiede können sowohl in der Qualität der Behandlung als auch in der Wahrnehmung von Symptomen und der Diagnosestellung liegen.
Das Healthtech-Unternehmen Doctolib hat dazu eine Studie durchgeführt, die zeigt: Frauen fühlen sich in der ärztlichen Praxis häufiger nicht ernst genommen. So sagen 82 Prozent der befragten Männer, sie seien mit ihrem letzten Arztbesuch zufrieden. Bei den Frauen sagen das nur 75 Prozent.
Auch wenn die Unterschiede im unteren einstelligen Prozentbereich liegen mögen, mache das im Praxisalltag einen erheblichen Unterschied, so Dr. Nicole Mattern: „Im Alltag sehen wir täglich, dass es erhebliche Diskrepanzen gibt, auch wenn das in der Statistik nicht so deutlich wird. Die gefühlte Realität ist eine andere.“ Studien seien „dafür da, um Fakten zu schaffen, aber wenn es um das Erlebnis im gesundheitspolitischen Kontext geht, denke ich, gibt es sehr viel Nachholbedarf“, erklärt Dr. Mattern.
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Was muss passieren, um den Gender Health Gap zu schließen?
Bessere Kommunikation, von Frauen ebenso wie von Ärzten und Ärztinnen
Wie aber entsteht die Versorgungslücke? Dr. Mattern führt die Ursachen des Gender Health Gaps auf verschiedene Faktoren zurück. Einer davon ist die mangelnde Aufklärung und das fehlende Angebot spezifischer medizinischer Dienstleistungen für Frauen. „Das Thema Frauengesundheit wird so stiefmütterlich behandelt, dass Frauen oft gar nicht wissen, an wen sie sich wenden könnten, um sich schnell testen zu lassen, zum Beispiel, wenn es um Geschlechtskrankheiten geht“, betont sie. „Da fehlt es auch an Kommunikation. Frauen reden weniger darüber als Männer. Und wenn sie zur Untersuchung geht, fühlt sich eine Frau oft unwohl, wenn sie in der Praxis mit lauter Männern im Wartezimmer sitzt.“
Hier sieht die Fachärztin auch ihre Kolleginnen und Kollegen in der Verantwortung: „Frauenärzte und Frauenärztinnen müssen natürlich auch bereit sein, mehr über solche Themen zu sprechen. Darüber zu sprechen, was auch präventiv für die Gesundheit von Frauen getan werden kann, um den Gender Health Gap zu verringern.“
„Reden ist nicht vorgesehen“ – Beratungsgespräche können nicht abgerechnet werden
Weiterhin sieht sie große Mängel im Gesundheitssystem. So sei besonders die fehlende Zeit von Ärztinnen ein zentrales Problem: „Es gibt keine Möglichkeit für einen Arzt oder eine Ärztin, um Gespräche abzurechnen.“ Das System sieht verschiedene Ziffern für verschiedene Behandlungsmethoden vor, die mit einem Kostenwert hinterlegt sind. Für ein Beratungsgespräch gibt es jedoch nicht einmal eine Ziffer. Sprich, die ärztliche Praxis kann das Gespräch gar nicht mit den Krankenkassen abrechnen. Deutlich wird dadurch, was Dr. Mattern sagt: „Reden ist nicht vorgesehen.“ Dies führe jedoch dazu, dass viele Patientinnen sich nicht ausreichend ernst genommen fühlten.
Frauengesundheit muss endlich ernst genommen werden
Das Gesundheitssystem muss sich weiterhin an die Bedürfnisse von Frauen anpassen. So habe die Politik erst jetzt erkannt, dass die Themen Endometriose oder Menopause rund 9.000.000 Menschen betreffen und dass diese Frauen ein wichtiger Faktor, auch für die Wirtschaft des Landes, sind. Langsam entstehen also Konzepte, wie Frauen in den Wechseljahren beispielsweise am Arbeitsplatz besser unterstützt werden können.
Aufklärung und Prävention, auch von sogenannten Tabu-Themen
Wichtig sei darüber hinaus auch die Aufklärung und Prävention. So würden laut Studien nur die Hälfte der Frauen zu Vorsorgeuntersuchungen gehen. Um das zu ändern, hat Dr. Mattern in Zusammenarbeit mit einer Kollegin den „Tag der offenen Vorsorge-Tür“ in Berlin ins Leben gerufen. Dieser sollte Frauen ermutigen, Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen: „Wir konnten mit einem kleinen Budget einige Frauen mobilisieren, in die Praxen zu kommen.“
Darüber hinaus haben sie eine spannende und wichtige Erkenntnis gemacht. Nämlich, wie man Frauen erreichen könne. Letztendlich müsse man auch in der Gesundheitsvorsorge Frauen nämlich dort erreichen, wo sie sich aufhalten und das sei auf Social Media, erklärt die Landesvorsitzende. „Wir haben gesehen, dass die Frauen ihre Termine über Social Media buchen. Dabei reden wir nicht nur über Frauen von 20 bis Mitte 40, sondern auch über 60 Jahre.“
Schaffen von fundierten Informationsplattformen zum Thema Frauengesundheit
Weiterhin dürfe man Frauen mehr zugestehen. „Uns Frauen wird gerne unterstellt, wir seien nicht reflektiert genug und würden uns durch Social Media in eine falsche Richtung drängen lassen, was klar diskriminierend ist und uns unsere Entscheidungsfähigkeit abspricht. Andererseits fehlt aber auch eine richtige Aufklärungsplattform, auf der sich Frauen wirklich gut informieren können.“
Doch das koste Geld. Geld, das weder Unternehmen noch Politik investieren will. „Politische Protagonisten und Protagonistinnen sind meist an kurzfristigen Lösungen interessiert, damit sich in ihrer Amtsperiode etwas verbessert. Langfristige Formate bekommen dahingegen oft ein Nein.“
Dabei wäre eine fundierte Informationsmöglichkeit zu Themen rund um Frauengesundheit, wie der Pille, HPV-Impfungen oder auch Abtreibungen wichtig. Aber auch weniger spezifische, aber nicht weniger wichtige Themen, wie Blutdruckmedikamenten oder Herzinfarkt-Symptomen bei Frauen könnten hier stattfinden.
Frauen sollten auf ihr Bauchgefühl hören
Neben den strukturellen und politischen Änderungen, die dringend nötig sind, um den Gender Health Gap zu bekämpfen, können wir Frauen aber auch selbst aktiv werden. So rät Dr. Mattern Frauen auf ihr Bauchgefühl zu hören und bei Unsicherheiten den Arzt oder die Ärztin zu wechseln. „Als Patientin darf man darauf bestehen, ernst genommen zu werden“, so Dr. Mattern.
Wenn Frauen das Gefühl haben, in der ärztlichen Praxis nicht ernst genommen zu werden, sollten sie dies offen ansprechen. „Ein Gespräch auf Augenhöhe macht auf jeden Fall Sinn“, meint Dr. Mattern. Sollte die Kommunikation nicht funktionieren, empfiehlt sie, eine andere Praxis aufzusuchen, da ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt oder Ärztin und Patientin essenziell ist. Auch sollten Frauen sich nicht scheuen, bei mangelnder Unterstützung eine zweite Meinung einzuholen.
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Dr. Nicole Mattern: »Ich habe Sorge vor der Zukunft
Abschließend betont Dr. Mattern noch einmal die Wichtigkeit von frühzeitiger und umfassender Aufklärung beim Thema Frauengesundheit: „Ich habe persönlich große Sorge davor, dass wir in Zukunft noch viel schlechter dastehen werden, was Aufklärung und Versorgung im ambulanten Bereich angeht. Frauen müssen es auch annehmen und sehen. Ich glaube, dass wir eine ganz frühe Aufklärung brauchen, die flächendeckend sein muss.“
Hier dürfen wir Frauen selbst aktiv werden, indem wir uns bei seriösen Plattformen oder direkt in der gynäkologischen Praxis unseres Vertrauens informieren. Aber auch, indem wir mit unseren Freundinnen, Kolleginnen, Verwandten darüber reden. Nur so können wir immer mehr auf die bislang vernachlässigten Auswirkungen von frauenspezifischen Leiden aufmerksam machen. Letztlich hängt es jedoch vor allem an der Politik und den entsprechenden Entscheidungsträgern und -trägerinnen, den Körper von Frauen endlich ernst zu nehmen und danach zu handeln, damit der Gender Health Gap in Zukunft schlichtweg nicht mehr existiert.