9. November 2023, 15:43 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Fehlerhafte Diagnosen und falsche Dosierungen von Medikamenten kommen in der Praxis häufiger vor als erwünscht. Besonders betroffen hiervon sind scheinbar Frauen. Was zunächst ein ungünstiger Zufall zu sein scheint, ist auf ein Phänomen zurückzuführen, welches sich Gender-Data-Gap nennt. Warum es wichtig ist, über die Thematik zu sprechen und wie sie sich auf den Alltag und die Gesundheit von Frauen auswirken kann, lesen Sie im Artikel.
Achtung: In diesem Artikel über den Gender-Data-Gap geht es lediglich um biologische Geschlechter und nicht um Gender in Form von sexueller Identifikation.
Warum es wichtig ist, zwischen biologischen Geschlechtern zu unterscheiden
Biologische Männer- und Frauenkörper unterscheiden sich ganz grundlegend. Nicht nur in ihrer Genetik, sondern auch in ihrer hormonellen und stoffwechselbedingten Anatomie zeichnen sich Unterschiede ab, die essenziell dafür sind, wie wir auf Umwelteinflüsse und Krankheiten reagieren. In der Praxis bedeutet das auf der einen Seite, dass sich viele Erkrankungen bei Männern und Frauen durch unterschiedliche Symptome äußern – auf der anderen Seite wirken Medikamente unterschiedlich auf ebendiese Symptome und ihre Ursachen. Während sich zum Beispiel ein Herzinfarkt bei Männern klassischerweise durch Schmerzen in der Brust auszeichnet, die bis in den linken Arm ausstrahlen, zeigt er sich bei Frauen in Form von einem Engegefühl in der Brust, Magen-Darm-Beschwerden, Rückenschmerzen und Atemnot aus. Letzteres war Ihnen nicht bekannt? Willkommen in der Gender-Data-Gap!
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Datenlücke bei Frauen: Das steckt hinter der Gender-Data-Gap
Die Gender-Data-Gap beschreibt die mangelnde Datenerhebung von Daten über Frauen gegenüber Männern. Beziehen lässt sich die Datenlücke unter anderem auf gesellschaftliche, kulturelle oder wirtschaftliche Aspekte, besonders schwerwiegende Auswirkungen kann sie jedoch in der Medizin haben. Klinischen Studien fehlt es oftmals an Probandinnen, wodurch Forschungsergebnisse einseitig ausfallen können. Problematisch wird das vor allem beim Testen von Medikamenten und Therapien. Sind diese nämlich vorwiegend auf Männer abgestimmt bzw. von Männern abgeleitet, kann sich das negativ auf die medizinische Behandlung von Frauen auswirken. So können durch unterschiedliche Symptomatiken etwa Diagnosen fehlerhaft ausfallen oder zu spät gestellt werden. In der Behandlung kann es zu Fehleinschätzungen oder einer falschen Dosierung von Medikamenten kommen. Wirkt sich die Gender-Data-Gap und ihre Auswirkungen auf medizinische (Un)gleicheit aus, so spricht man zusätzlich von einer Gender-Health-Gap.
Doch wie ist diese Lücke in der medizinischen Forschung überhaupt entstanden? Rückblickend betrachtet, waren in vergangenen Jahrzehnten nicht nur die Mehrheit der Ärzte Männer, zudem galt der männliche Körper als der Maßstab in klinischen Forschungen. Auf geschlechtsspezifische Unterschiede wurde bezüglich des Gender-Data-Gaps zeitweise kaum Rücksicht genommen. Ein wesentlicher Unterschied zeigt sich etwa im Hormonhaushalt. Bei Frauen ändert sich dieser zyklusweise, der Zyklus wiederum ändert sich mit fortschreitendem Alter. Gleichzeitig können sich durch hormonelle Schwankungen negative Effekte auf die Wirkweise von Medikamenten ergeben.
Gender-Data-Gap führt zu fehlerhaften Diagnosen
Die Gender-Data-Gap ist dabei mehr als nur rein spekulativ. Wie eine Studie der AXA-Versicherungsgruppe von 2023 zeigt, sind sich mehr als die Hälfte aller befragten Hausärzte unsicher, ob sie bereits eine fehlerhafte Diagnose aufgrund des Geschlechts gestellt haben. Gerade in Notfällen ist eine geschlechterspezifische Diagnose der Symptome jedoch unerlässlich. Zusätzlich handelt es sich schätzungsweise bei 80 Prozent der Versuchsmäuse um Männchen, bei klinischen Studien an Menschen nehmen nur etwa 10 bis 30 Prozent Frauen teil. Fehlende Forschungsergebnisse spiegeln sich zusätzlich bei Krankheiten wider, von denen ausschließlich Frauen betroffen sind. So leiden in Deutschland laut der Endometriose-Vereinigung etwa 2 Millionen Frauen an der Unterleibserkrankung. Diese gilt in der Medizin als kaum erforscht.
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Wie sich die Gender-Data-Gap auf medizinische Behandlung auswirkt, zeigt sich auch in der Dosierung von Medikamenten. Männer sind nämlich nicht grundsätzlich weniger von schwerwiegenden Erkrankungen betroffen wie Frauen, jedoch sind Medikament und Therapien zumeist besser auf ihre körperliche Beschaffenheit zugeschnitten. Ein Beispiel hierfür ist der Wirkstoff Digoxin, der bei Herz-Kreislaufbeschwerden eingesetzt wird. So kann der Wirkstoff Männern bei der Genesung helfen, bei Frauen kann die Sterblichkeit sogar erhöht werden.
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Erst seit 2022 gibt es wichtige Schritte in Richtung medizinischer Gleichheit
Das Thema der geschlechterspezifischen Medizin und Gender-Data-Gap bekommt mit der Zeit immer mehr Aufmerksamkeit. Dennoch besteht hierbei ein enormer Aufholbedarf. Erst seit 2022 gibt es eine allgemeine EU-Verordnung zur Miteinbeziehung aller Geschlechter bei medizinischen Studien. So müssen Arzneihersteller nun alle klinische Studien mit einer repräsentativen Geschlechter- und Altersverteilung durchführen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch gilt das nicht für bereits geläufige Arzneien. Diese beruhen zum Teil immer noch auf nicht angepassten Daten. Dennoch werden derzeit essenzielle Schritte in Richtung geschlechtlicher Gleichheit in der Medizin gemacht, der wichtigste hierbei bleibt jedoch nach wie vor die Aufklärung über die Thematik.