21. Februar 2023, 17:21 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Midlife Crisis – was ist das überhaupt? Wie fühlt sie sich an und was lehrt uns die berüchtigte Krise in der zweiten Lebenshälfte? STYLEBOOK hat mit einer Expertin darüber gesprochen, warum diese Phase zu den wichtigsten Lektionen unseres Lebens gehört – und wie wir sogar Kraft aus ihr schöpfen können.
Das Gefühl kommt schleichend: Obwohl nach außen alles in Ordnung zu sein scheint, macht sich im Inneren eine immer größer werdende Unzufriedenheit breit. Alles wirkt irgendwie übersättigt, müde und gelähmt, dazu noch eine diffuse Sehnsucht nach etwas, das man nicht benennen kann. Es ist nicht so schlimm, dass man von einer Depression sprechen könnte, aber dennoch alarmierend genug, um etwas ändern zu wollen. „Dieses Phänomen wird als Midlife Crisis beschrieben, ist jedoch kein wissenschaftlich definierter Begriff“, erklärt uns Nina Steffens, Psychotherapeutin und Systemischer Coach, die sich auf eben diese Lebensphase spezialisiert hat. „Auch kann sie zu jedem Zeitpunkt im Leben eintreten. Sogar mit Ende Zwanzig. Meist zeigt sich das Phänomen aber, wenn man schon etwas mehr an Lebenserfahrung hat.“
Wie eine Midlife Crisis entsteht
Mit Lebenserfahrung meint Steffens in diesem Zusammenhang, wenn die ursprünglich gesetzten Ziele weitestgehend realisiert wurden. Studium, Verwirklichung im Beruf, Heiraten, Familie gründen, Haus bauen. „Irgendwann kommt es zu einem Punkt, an dem viele Dinge im Außen erreicht worden sind, die wir erreichen wollten.“ Das Paradoxe: Je erfolgreicher man in der Erreichung seiner Ziele war und je gefestigter die materielle (wie finanzielle) Sicherheit ist, desto größer kann sich die plötzliche Leere anfühlen. „In der Phase bis 40 findet der Aufbau statt und alles entwickelt sich überwiegend nach oben. Daher erreichen wir irgendwann unweigerlich ein Plateau, Alltäglichkeit ersetzt den vorherigen Aufwärtstrend“, so die Expertin. Das kann ein Gefühl von Unzufriedenheit und Leere zur Folge haben.
Midlife Crisis – Zeit für Veränderung
„Persönliche Entwicklung – das heißt, sich der eigenen Geschichte zu stellen – findet nicht durch Zufriedenheit oder Dauerglück statt. Erst Erfahrungen von Schmerz oder Krisen, Stillstand oder Unzufriedenheit bringen uns den Impuls zu wachsen“, führt Steffens weiter aus. Für sie ist deshalb die Midlife Crisis eine wichtige Botschaft der Seele, dass es einen Strategiewechsel braucht und dass das Leben ab jetzt neu ausgerichtet werden will. Die alten Muster greifen nicht mehr, ein neues Konzept muss her. Zunächst einmal muss man sich aber fragen: Was sind die alten Konzepte, mit denen wir zuvor durch Leben gegangen sind? „Wir leben in einer Kultur, in der wir das Glück im Außen suchen“, weiß Steffens. „Durch Konsum, materiellen Wohlstand oder tolle Erlebnisse. Gleichzeitig wollen wir anderen Menschen gefallen und ihre Erwartungen erfüllen.“ Bis zu einem gewissen Grad hat das zwar seine Berechtigung – aber eben auch seinen Preis.
Gerade Frauen erleben oft, dass die Art und Weise, wie sie sich über Jahrzehnte mit ihrer Weiblichkeit identifiziert haben, nicht mehr greift. Vieles ging bis dato über das Körperliche: jugendliche Schönheit, das Streben nach einem vermeintlichen Idealbild. Und wenn dann auch noch der Zyklus mit all seinen Schwankungen im Rahmen der Wechseljahre langsam zum Erliegen kommt, heißt es zusätzlich, sich von der eigenen Fruchtbarkeit zu verabschieden. „Das sind teils heftige Prozesse, die da zu bewältigen sind und von denen kaum gesprochen wird“, weiß die Expertin. Und nicht selten werden sie von starken Schuld- und Verlustgefühlen begleitet.
Wie überwindet man die Krise?
Durch diesen „inneren Richter“ im Kopf, der uns ständig vorhält, nicht schön, erfolgreich oder perfekt genug zu sein und die Fixierung auf das Äußerliche, haben wir über die Jahre verlernt, unsere Körper und unsere wahren Gefühle zu spüren, glaubt Steffens. Die Midlife Crisis ist demnach nichts anderes als ein Wachstumsimpuls. Eine lautstarke Forderung der Seele, wieder sie selbst sein zu dürfen. Wenn Nina Steffens mit ihren Klienten arbeitet, holt sie daher das, was diese daran hindert sie selbst zu sein, wieder ans Tageslicht.
Fragen wie Warum habe ich genau den Weg eingeschlagen? Welche Dinge ziehen sich wie ein roter Faden durch mein Leben? Was verunsichert mich? Wo liegen meine Selbstzweifel?, entlarven Schritt für Schritt all jene Muster, die wir jetzt nicht mehr brauchen. Was dann auf den Tisch kommt, ist das eigentliche Ich und ein neues „echteres“ Gefühl für sich selbst, „weg vom Optimierungswahn, hin zur radikalen Akzeptanz und Selbstliebe“, erklärt Steffens. „Das bedeutet auch, sich alten Schmerz anzuschauen und zu lernen, die Kraft der eigenen, oft seit der Kindheit verdrängten Wut zu spüren. Denn wenn ich meine Wut nicht fühle, kann ich meine Stärke nicht fühlen.“
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Gestärkt aus der Midlife Crisis hervorgehen
Mit der Zeit lichtet sich der Vorhang und eine neue Klarheit tritt ein, weiß Steffens aus ihrer Praxis. „Sobald es gelungen ist, Widerstände und Blockaden zu erkennen und loszulassen, die so viel Energie gekostet haben, kommt auch die Lebensfreude zurück.“ Nur, dass sie jetzt im Inneren erlebt und nicht mehr im Außen gesucht wird. Die Meinung anderer ist nicht mehr maßgeblich. „Das ist wie eine Art Emanzipation.“ Wieder in den Fluss und damit zu sich selbst kommen, ist eine enorme Befreiung. Sich dieser Aufgabe anzunehmen und diesem Wachstumsimpuls des Lebens zu folgen, schützt letztendlich vor Verbitterung und möglicherweise auch vor der Gefahr, in eine wirkliche Depression abzurutschen.