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Gravitas suppressalis

Plötzliche Mutter, ohne Vorankündigung? So kommt es zu einer verdrängten Schwangerschaft

Verdrängte Schwangerschaften sind kein Einzelfall
Verdrängte Schwangerschaften sind kein Einzelfall Foto: Getty Images
Anna Wengel

21. August 2023, 6:21 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten

Und plötzlich ist da ein Baby. Das Phänomen der verdrängten Schwangerschaften polarisiert. Für viele ist es schwer zu verstehen, dass eine Schwangerschaft unbemerkt bleiben kann. Und doch ist das gar nicht so selten. STYLEBOOK fragte einen Experten, wie es zu einer verdrängten Schwangerschaft kommen kann.

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Stellen Sie sich einmal vor, Sie wachen morgens mit ungewohnten Schmerzen im Bauch auf, die über den Tag einfach nicht weggehen wollen, sondern stärker werden. Irgendwann fängt es tief in Ihnen an, extrem zu drücken, als wolle da irgendetwas aus Ihnen herauskommen – was dann auch passiert: ein Baby. Ein Baby, das von Ihnen komplett unbemerkt knapp 40 Wochen in Ihnen herangewachsen ist, ohne, dass Sie es nur geahnt hätten. Das jetzt plötzlich da ist und Ihr Leben mit seiner bloßen Existenz komplett auf den Kopf stellt. Das kann gar nicht sein, denken Sie jetzt? Leider doch. Verdrängte Schwangerschaften sind nicht so selten, wie Sie (oder ich) es vielleicht dachten. Und sie kommen in jeder Gesellschaftsschicht vor.

STYLEBOOK hat zu dem Thema bei PD Dr. med. Jens Wessel nachgefragt, Gynäkologe und Urheber einer Studie zu verdrängten Schwangerschaften. Und der hat uns überraschende Antworten gegeben.

Was ist eine verdrängte Schwangerschaft?

Von einer verdrängten Schwangerschaft – oder Gravitas suppressalis, wie das Phänomen von Medizinern genannt wird – spricht man, wenn eine Frau von ihrer Schwangerschaft bis zur 20. Schwangerschaftswoche nichts mitbekommt. Das passiert laut der Publikation Dr. Wessels mit dem Titel „Verdrängte Schwangerschaft“ in einem von 300 bis 600 Fällen. Seine Studie ergab genauere Zahlen: In einem von 475 Fällen wurde die Schwangerschaft erst nach der 20. Woche durch einen Arzt festgestellt, eine von 2455 Frauen bemerkte die Existenz ihres Kindes erst während der Geburt. „Hochgerechnet auf ganz Deutschland gäbe es demnach 1600 Geburten pro Jahr mit einer verdrängten Schwangerschaft, die erst ab der 20. SSW ärztlich diagnostiziert wird. Und etwa 300 Entbindungen lebensfähiger Kinder, ohne dass die Schwangere zuvor auch nur im Geringsten an das Vorhandensein einer Schwangerschaft dachte“, schreibt Dr. Wessel. Letzteres sei „dreimal häufiger als Drillinge“.

Wie kommt es zu einer verdrängten Schwangerschaft?

Es gibt nicht den einen Grund, aus dem eine Frau eine Schwangerschaft verdrängt. In Wessels Studie nannten betroffene Frauen zahlreiche Gründe für das Nichtbemerken, wie etwa Konflikte in der Partnerschaft, außergewöhnliche private oder berufliche Belastungen, kranke Kinder oder der Tod von Angehörigen.

Wessel hierzu: „Jede Schwangerschaft ist ein komplexer leib-seelischer Vorgang mit tiefgreifenden hormonellen, organischen und psychischen Veränderungen.“ Je nach individueller Situation werde sie mehr oder weniger bewusst als krisenhafte und häufig ambivalente Lebenssituation erlebt. Und wie jede Krise berge auch die Schwangerschaft „die Gefahr der Regression und Verdrängung.“ Verdrängung hilft, eine ungewollte Situation ins Unbewusste zu schieben, sich also nicht mehr damit auseinandersetzen zu müssen. Entsprechend, erklärt Wessel, ließe sich „der Begriff der Schwangerschaftsverdrängung auffassen als das Unbewusstmachen des leib-seelischen Vorganges Schwangerschaft und dessen für die Schwangere anders nicht lösbare widersprüchliche und damit angstauslösende Bedeutungsinhalte.“ Die Schwangere schützt sich also aus Angst mittels der Verdrängung davor, sich mit ihrer neuen Realität auseinandersetzen zu müssen – zumindest so lange, bis sie davon durch äußere Diagnosen oder die Geburt eingeholt wird.

Wessel fasst zusammen: „Insgesamt liegt der Schwangerschaftsverdrängung wahrscheinlich keine uniforme strukturelle Ursache zugrunde.“ Vielmehr sei eine „jeweils spezifische individuelle Psychodynamik anzunehmen“, an der unterschiedliche innere Konflikte und Verarbeitungsweisen beteiligt seien.

Wie können Schwangerschaftssymptome unbemerkt bleiben?

Die Frage, die sich sicherlich die meisten stellen, ist, wie es sein kann, dass eine Frau eine Schwangerschaft nicht bemerkt. Denn in der Regel sorgt schon der Körper mit Symptomen wie dem Ausbleiben der Regelblutung, Übelkeit, Gewichtszunahme und schließlich dem immer größer werdenden Babybauch mit dem darin zappelnden und tretenden Baby dafür. Bei vielen kommen emotionale Veränderungen hinzu.

Die Antwort, die Dr. Wessel in seiner Publikation gibt, ist schlicht und einfach die (Weg-)Rationalisierung. Er sagt, dass viele Frauen zwar körperliche Symptome bemerkt hätten, diese aber umgedeutet oder rationalisiert hätten. So wurde etwa eine Gewichtszunahme auf vermehrtes Essen oder Appetit, eine fehlgeschlagene Diät oder bereits bekannten Gewichtsschwankungen zurückgeführt. „Ein gespannter Bauch oder Unterleibschmerzen mit gewohnten Blinddarm- oder Gallenbeschwerden, Magenprobleme/ Darmbewegungen mit üblichen Darm- oder Stuhlgangbeschwerden, eine Amenorrhö [das Ausbleiben der Regelblutung] mit beginnenden Wechseljahren oder vertrauten Zyklusunregelmäßigkeiten“ erklärt. Laut dem Mediziner gaben viele Frauen außerdem im Nachhinein an, menstruationsähnliche Blutungen gehabt zu haben. Bis heute sei die Ursache dafür jedoch nicht geklärt.

„Es gibt nicht den einen Typ von Schwangerschaftsverdrängerin“

Das schreibt Dr. Wessel und erklärt: Frauen jedes fertilen Alters, aller Ausbildungs- und Berufsgruppen und jedes Familienstands und sozialen Hintergrunds können von einer verdrängten Schwangerschaft betroffen sein.

Der Gynäkologe sagt, früher sei vermutet worden, dass Frauen mit Risikofaktoren wie sozialer Isolierung, niedriger Intelligenz, eines geringen sozialen Status, jungen Alters, vorehelicher Konzeption und Unwissenheit über Fortpflanzungsabläufe anfälliger für eine verdrängte Schwangerschaft seien. Diese Vermutung sei jedoch nicht haltbar. Auch seien Erstgebärende etwa so oft betroffen wie Mehrgebärende. „Ebenso ist das Vorurteil, diese Frauen seien entweder psychotisch oder würden lügen, falsch“, macht der Mediziner deutlich.

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Welche Folgen kann eine verdrängte Schwangerschaft für Mutter und Kind haben?

„Wird eine Schwangerschaft über lange Zeit verdrängt oder gar bis zur dann völlig unerwarteten Geburt (…), ist fraglos von einer beträchtlichen Risikosituation für Mutter und Kind auszugehen“, schreibt Dr. Wessel. Er ermittelte in seiner Studie ein „deutlich erhöhtes neonatales Risiko.“ Laut Wessel waren die „Parameter Frühgeburtlichkeit, Geburtsgewicht <2500 g, Mangelgeburt und somit auch die Verlegungsrate in die Neonatologie (…) signifikant erhöht.“ Außerdem starben deutlich mehr Neugeborene nach einer verdrängten Schwangerschaft.

Der vermutete Grund für das erhöhte Risiko für die Neugeborenen ist die fehlende Anpassung des Lebensstils der Frau an ihre Schwangerschaft. Das geschieht aus Unwissenheit, führt aber häufig dazu, dass sie sich zum Beispiel unzureichend oder falsch ernährt, raucht oder körperlich zu stark belastet. Auch für die Mutter sei eine verdrängte Schwangerschaft gefährlich und könne im schlimmsten Fall zum Tod führen.

Eine weitere, nicht minder wichtige Folge einer verdrängten Schwangerschaft ist das Schicksal des Kindes nach der Geburt. Bekommt eine Mutter vollkommen unvorbereitet ein Kind, wird es nicht unbedingt in eine ideale Situation hineingeboren. Von den 61 Neugeborenen blieben 49 bei ihren leiblichen Eltern oder der alleinlebenden Mutter. Ein Kind kam bei bei Pflegeeltern unter und elf wurden zur Adoption freigegeben. Von diesen elf wurden fünf Schwangerschaften erst während der Geburt und sechs nach der 32. SSW entdeckt.

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Wie kann man Müttern nach einer verdrängten Schwangerschaft am besten helfen?

Bekomme eine Frau unerwartet ein Kind, habe sie anschließend in der Regel mit einer großen Verunsicherung zu, schreibt Wessel. Hinzu kämen massive Selbstzweifeln und vor allem Schuldgefühlen gegenüber dem Kind. Sie mache sie ohnehin größte Vorwürfe und sollten nicht mit Fragen oder Anschuldigungen konfrontiert werden. Wessel schreibt: „Bemerkungen wie, ‚Das ist ja alles nicht zu glauben!‘, und ‚Wie konnte das nur passieren?‘ sind ganz sicher fehl am Platz – zumal die Frauen sich mit diesen Fragen ohnehin selbst konfrontieren (…).”

Vielmehr helfe es der Frau, sie zu entlasten und ihre Situation anzunehmen. Ebenso wie die Versicherung, dass es so etwas häufiger gebe (s. o.). Auch eine psychotherapeutische Unterstützung kann hilfreich sein, ebenso wie Eltern-Kind-Gruppen. Bestehen ernste Zweifel oder eine offensichtlich kritische Situation, rät der Gynäkologe dazu, einen Psychosomatiker oder Psychiater zu kontaktieren. Sei das Kindswohl gefährdet, rät er, das Jugendamt einzuschalten.

Quellen

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