7. April 2023, 7:05 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Selbstliebe, das wohl größte Wort der vergangenen Jahre. Nie war der Fokus auf Selbstakzeptanz und eigener Fürsorge so scharf, wie heute. Doch wie viel Selbstliebe ist gesund und wo beginnt schon Egoismus? STYLEBOOK hat mit zwei Paartherapeuten über Selbstliebe, Selbstverliebtheit und Narzissmus gesprochen
Inhaltsverzeichnis
- Drang nach Selbstoptimierung
- Sich auf sich selbst konzentrieren
- Wann wird Selbstliebe gefährlich?
- Selbstliebe als Verkaufsargument
- Selbstliebe vs. Selbstverliebtheit
- Lieben sich Narzissten selbst?
- Selbstliebe in der Partnerschaft: „Geraten Sie nicht in ein Selbstliebe-Selbstoptimierungs-Falle“
- Fazit: Kann man sich selbst zu sehr lieben?
Der Hashtag #selflove wurde über 100 Millionen Mal genutzt. Sprüche wie „Du musst dich zuerst selbst lieben, bevor es jemand anderes tun kann“ (ja, der zweite Teil dieses Satzes variiert je nach Quote-Seite auf Instagram), verankern sich immer fester in unseren Köpfen. Und keine Frage: Selbstliebe ist unerlässlich, wir sollten lieben, wer wir sind, was wir im Spiegel sehen und was wir spüren. Wir sollten unsere innere Stimme darauf trainieren, mit uns wie eine grandiose Freundin zu sprechen und nicht wie der größte Feind. Schließlich müssen wir mit uns selbst bis ans Ende unserer Tage ausharren – und deshalb sollten wir es gerne tun.
Doch wie bei vielen andere positiven Bewegungen kann die Stimmung rasch kippen. Etwa, wenn depressiven Menschen zugerufen wird: „Hey, lieb‘ dich doch einfach selbst, dann wird es dir besser gehen!“ Natürlich ist Selbstliebe wichtig, jedoch darf es nicht als Allheilmittel – besonders für psychische Erkrankungen – angepriesen werden. Ebenso wenig ist es förderlich, Menschen, die in toxischen Beziehungen gefangen sind, fehlende Selbstliebe als Grund dieser schrecklichen Verhältnisse vorzuwerfen. Das nennt man im übrigen Victim Blaming.
Das Konzept der Selbstliebe ist dennoch wunderbar – und dankbar. Die Vorstellung, niemand weiteren, als sich selbst zu benötigen, klingt befreiend, fast schon erlösend. Doch wann geht das alles mit der Selbstliebe zu weit? Dazu haben wir auch unter anderem mit Paartherapeut Eric Hegmann und Paartherapeutin Susanne Brümmerhoff gesprochen.
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Drang nach Selbstoptimierung
Die Selbstliebe-Bewegung kann auch schnell wieder in einen gewaltigen Selbstoptimierungskampf enden – oder sogar narzisstische Züge annehmen. Wenn wir all das befolgen, was die ganzen Kanäle, Bücher und Menschen ständig in Großbuchstaben auf Papier oder im Feed platzieren, dann dreht sich am Ende des Tages alles, wirklich alles nur noch um uns selbst. Und als soziale Wesen scheint das ziemlich gefährlich. Denn immerhin gibt es nicht nur uns auf dieser Welt, sondern auch unsere Nächsten. Das wichtige Attribut Nächstenliebe sollte nicht auf die letzten Plätze rücken, weil wir uns selbst eines Tages so toll finden und gefährlicher Weise über alles und jeden stellen, dass wir den Blick für unsere Mitmenschen verlieren. Denn die sollten wir – wenn sie auch gut zu uns sind – ebenso mit Liebe überhäufen.
Sich auf sich selbst konzentrieren
Besonders nach Trennungen lesen wir oft, dass sich ein Teil jetzt auf „sich selbst konzentriert“. Das ist wichtig und richtig, denn so unabhängig eine Beziehung auch ist, sie lebt trotzdem von Kompromissen, Fürsorge und Zweisamkeit (je nach Beziehungsmodell). Doch wo kommen wir in unserer Gesellschaft hin, wenn sich auf einmal alle nur noch auf sich selbst konzentrieren und sich nicht mehr für das Leben, Sorgen, Wünsche, Träume und Meilensteine der anderen Menschen interessieren? Selbstliebe sollte daher nicht bedeuten, die anderen Menschen auszuschalten, zu ignorieren und nicht mehr wahrzunehmen, sondern einfach, etwas besser mit sich selbst umzugehen. Denn damit helfen wir nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Mitmenschen. Das tut uns gut.
Wann wird Selbstliebe gefährlich?
Es ist wichtig, Negativität so gut es geht aus dem eigenen Leben fernzuhalten. Niemand möchte negative Gefühle und Vibes spüren und sich mit toxischen Menschen umgeben. Die sollten wir definitiv immer auf Abstand halten. Schließlich sind wir doch wie Blumen und wir kennen es alle: Ist eine Pflanze im Topf kaputt, zieht sie alle anderen mit runter, oder? Allerdings gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen toxischen und traurigen, verletzten Menschen. Erkennen wir vor lauter Toxic-Gefasel hier überhaupt noch einen Unterschied? Jein. Denn die ganze Debatte um das Thema Selbstliebe, kann für einige, die das als komfortable Ausrede für wirklich alles nutzen, prekär werden.
Denn was ist mit denjenigen, sagen wir Freunden, die gerade durch eine schwere Phase in ihrem eigenen Leben gehen, eine freundschaftliche Schulter wünschen, die ihnen zuhört? Wenn sie über ihr Leid klagen, verzweifelt sind und sich derzeit in einer schwierigen Phase voller negativer Selbstreflexion befinden. Eine Phase, in der sie keinen Platz finden, um „sich selbst zu lieben“ und einen auch mit den eigenen Problemen runterziehen. Sollten wir uns dann fernhalten und das mit Selbstliebe rechtfertigen? Sich selbst zu lieben bedeutet nicht, von sich selbst besessen zu sein und alle anderen zu übersehen. Sonst handeln wir egoistisch. „Zu viel ist immer zu viel. Bei Selbstliebe könnte eine zu starke Fokussierung auf die eigenen Vorteile die Grenzen anderer verletzen und überschreiten“, erklärt Paartherapeut Eric Hegmann.
Anders ist es aber, wenn es um Menschen geht, die uns schlecht behandeln. Die ihre eigenen Unsicherheiten auf uns übertragen, uns das Gefühl geben, mit uns wäre etwas falsch. Diese Projektion ist tatsächlich giftig und eine Trennung von diesen Menschen kann mit Selbstliebe gerechtfertigt werden.
Selbstliebe als Verkaufsargument
Es gibt eine weitere Kritik, an dem aktuellen Umgang zum Thema Selbstliebe: Das ständige Vermarkten und Suggerieren der Produkte, die vermeintlich mit Selbstliebe zusammenhängen. Sei es das Sweatshirt mit der Selflove-Aufschrift oder der überteuerte Pilates-Kurs, ohne den es sich nicht selbst zu lieben scheint. Natürlich spielt das Wohlbefinden, die mit Mode und Sport einhergehen kann, eine wichtige Rolle, wenn es um Selbstliebe geht. Allerdings ist das nicht die Definition von Selbstliebe. Die sollte auch ohne all diese Sachen funktionieren. Die Aufschrift auf unserem neuen Trinkbecher in mattschwarz, definiert nicht unser inneres Verhältnis zu uns selbst.
Selbstliebe vs. Selbstverliebtheit
Gesunde Selbstliebe bedeutet definitiv auch, sich mal um sich selbst zu kümmern – ganz allein: Date-Nights, Wellness, Ausflüge, Urlaube und auch, sich etwas zu gönnen. Das könnte man eher unter den Begriff Selbstfürsorge packen, die ebenfalls unverzichtbar ist. Doch daneben gibt es auch noch den Begriff Selbstverliebtheit und während dieser eher negativ behaftet ist, klingt Selbstliebe fast schon essenziell. Doch was ist der Unterschied?
„Der Unterschied zwischen Selbstliebe und Selbstverliebtheit ist so ähnlich wie der Unterschied zwischen Liebe und verliebt sein“, erklärt Paartherapeutin Susanne Brümmerhoff. „Selbstliebe ist, wenn wir uns annehmen, mit all unseren Fähigkeiten und Schwächen. Selbstverliebtheit ist eine Begeisterung für ein Traumbild, das wir von uns selbst aufgebaut haben.“
Paartherapeut Eric Hegmann erklärt, dass er Begriff Selbstliebe individuell unterschiedlich ist: „Selbstliebe wird häufig heute propagiert als das Gegenmittel zu mangelndem Antrieb, zu eingeschränkten Schwingungsfähigkeiten, zu einem negativen Blick auf sich, auf die Welt und auf die Zukunft“. Besonders die Auswirkungen der Begrifflichkeiten sind hier entscheidend: „Selbstverliebt klingt wertender als Selbstliebe für manche Menschen. Der Unterschied liegt nach meiner Erfahrung weniger in einer Definition als vielmehr in der Verwendung“, ergänzt er. „Kurz: Was für einen Partner mächtig selbstverliebt erscheint, ist für den anderen vielleicht gesunde Selbstliebe.“
Lieben sich Narzissten selbst?
So übereifrig wie wir heute mit dem Begriff Selbstliebe um uns schmeißen, nutzen wir auch gerne das Wort Narzissmus – oftmals schneller als berechtigt. Narzissten, oder besser gesagt Menschen mit ausgeprägten narzisstischen Zügen, wird dabei oftmals ein Übermaß an Selbstliebe zugeschrieben. Das ist eine Fehlinterpretation, wie wir von den Paartherapeuten erfuhren. Narzissten sind weder selbstverliebt noch haben sie sich gerne: „Narzissmus ist entgegen mancher Vorstellung und Interpretation nicht ein Übermaß an Selbstliebe, sondern eher gegenteilig eine Sammlung von Schutz- und Überlebensstrategien bei einem sehr geschwächten und verletzten Selbstwert“, erklärt Eric Hegmann. Dieser Trugschluss wird von einem bestimmten Merkmal getragen: „Einige dieser Verhaltensweisen wirken selbstverliebt, sind aber begründet in Selbstzweifel“.
Es ist also eher die gespielte Form von Selbstliebe und Selbstachtung, wie Susanne Brümmerhoff verdeutlicht: „Narzissten schaffen es nicht, sich aufrichtig selbst zu lieben. Sie verlangen die Liebe und Verliebtheit von anderen. Um diese Lücke zu füllen, die sie in sich selbst spüren“. Dabei ist es mehr Schein als Sein: „Sie haben nicht diese ruhige, selbstgewisse Selbstliebe, sondern ein aufgeblähtes, aufgepumptes Scheinbild ihrer selbst, welches immer wieder bestätigt werden muss“. Dadurch handeln Narzissten oftmals rücksichtslos: „Es stimmt nicht, dass Narzissten nur sich selbst lieben. Sie lieben sich nicht. Sie benötigen die Liebe von anderen. Und zwar existenziell. Das macht Narzissten oft so rücksichtslos“, fasst sie zusammen.
Selbstliebe in der Partnerschaft: „Geraten Sie nicht in ein Selbstliebe-Selbstoptimierungs-Falle“
„Selbstbewusstsein macht attraktiv“, sagt Paartherapeut Eric Hegmann zu STYLEBOOK. Auch in einer Partnerschaft ist die Selbstliebe wichtig und wird oftmals zu schnell vernachlässigt. Eric Hegmann appelliert an die Signifikanz von Selbstliebe innerhalb von Liebesbeziehungen: „Seien Sie mit sich selbst gut befreundet und gehen Sie mit sich selbst wohlwollend um, das ist schon eine ganze Menge und geraten Sie nicht in eine Selbstliebe-Selbstoptimierungsfalle“, erklärt er.
Um in einer gesunden Beziehung aber noch als Individuum zu funktionieren, sei Selbstliebe enorm wichtig: „Selbstliebe in Beziehungen ist wichtig, um ein Individuum zu bleiben und nicht gänzlich in einem Wir aufgesogen zu werden oder um nicht in eine emotionale Abhängigkeit zu geraten“.
Grenzen, die ebenso wichtig in Beziehungen sind, werden durch ein gesundes Maß an Selbstliebe leichter gezogen: „Jeder Partner darf und soll seine Grenzen aufzeigen. Diese Konflikte, dieses Verhandeln, diese Reibung, gehört zu einer Beziehung. Jede Liebesbeziehung ist der täglich gelebte Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach Geborgenheit und Verschmelzung einerseits und dem Wunsch nach Autonomie, Selbstbestimmung und Exploration andererseits“, führt Eric Hegmann fort.
„Denk einfach positiv“ Toxische Positivität – wenn erzwungener Optimismus auch schaden kann
Paartherapeutin erklärt Warnsignale Typische Anzeichen einer „toxischen“ Beziehung
Bei Therapeut nachgefragt Was ist eigentlich ein „Vaterkomplex“ – und ist das wirklich schlimm?
Fazit: Kann man sich selbst zu sehr lieben?
In einer Welt voller Selbstdarstellung und dominanten Schönheitswettbewerben, die von Anerkennung auf Instagram & Co. befruchtet werden, bleibt es nicht aus, dass wir in unserer Gesellschaft sehr viel Selbstverliebtheit erfahren. Sich ständig zu sehen und die Bestätigung von außen zu bekommen, kann dazu verleiten. Doch Selbstliebe, sich also aus tiefstem Herzen gerne haben und mit (fast) allem, was man tut, abends erholsam schlafen zu können, ist für uns Menschen essenziell. Für unser Wohlergehen, aber auch, um unseren Mitmenschen ebenfalls ein guter Mitmensch sein zu können. Also können wir uns selbst zu sehr lieben? Die Antwort lautet: Nein, nicht wenn wir es richtig machen.
Man lebt nur einmal. Doch wenn man es richtig anstellt, reicht das voll und ganz – Mae West
Quellen
- Mit fachlicher Beratung von Paartherapeut Eric Hegmann und Paartherapeutin Susanne Brümmerhoff