10. April 2015, 11:26 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Seit 40 Jahren zählt Jean Paul Gaultier (61) zu den ganz Großen der Modeszene, kreierte Röcke für Männer oder den Raketen-BH für Madonna (57). Für eine Dokumentation über sein Lebenswerk ließ er jetzt seine erfolgreichsten Kreationen noch einmal auferstehen. STYLEBOOK.de traf ihn anlässlich der Filmpremiere in Berlin.
2015 ist das Jahr von Jean Paul Gaultier. Auch wenn das ehemalige „Enfant terrible“ der Modeszene letztes Jahr seinen Abschied von der Prêt-á-porter feierte, so ist er trotzdem im Augenblick omnipräsent. Gerade erst eröffnete das Pariser Grand Palais die Ausstellung „The Fashion World of Jean Paul Gaultier: From the Sidewalk to the Catwalk“ und zeigt noch bis 3. August die schönsten Kreationen der letzten 40 Jahre. In der Doku des französischen Filmemacher Loïc Prigent schneidert er diese für die Kamera nochmals nach, z. B. ein Tutu mit Nietenbustier und Lederjacke von 1976.
Zur Premiere der „arte“-Dokumentation reiste Gaultier sogar extra nach Berlin. Wir trafen ihn im SchwuZ, Berlins ältestem Schwulenclub, in dem die Filmpremiere abends gefeiert wurde. Gaultier trägt ganz ungewohnt graue Haare und schwarzen Anzug statt seiner Markenzeichen blondiert und Ringelshirt.
STYLEBOOK: Werden Sie sentimental, wenn Sie alte Entwürfe von Ihnen sehen, wie jetzt in der Dokumentation über ihre berühmtesten Kreationen?Jean Paul Gaultier: „Nein, ich bin nicht sentimental oder heule schnell. Wenn etwas mal erledigt ist, interessiert es mich auch nicht mehr. Manchmal ist es aber super, alte Dinge zu sehen und sich zu fragen, ,Warum habe ich das so getan?‘. Es treibt mich so gesehen voran, alte Dinge zu sehen.“
Haben Sie in Ihrer Karriere starke Konkurrenz zu anderen berühmten Designern verspürt, besonders am Anfang?
Gaultier: „Nein! Ich habe mit 24 Jahren mit nichts angefangen. Ich habe für kein großes Haus gearbeitet und musste mich um kein Image kümmern, das ich hätte pflegen müssen. Ich habe getan, worauf ich gerade Lust hatte. Ich hatte keine Konkurrenz und war froh, mein eigenes Ding machen zu können. Und das war das Gegenteil von allem bisher Dagewesenen. In Paris mochte man damals alles, was schön ist und hübsch zusammenpasst. Mich hat das noch nie interessiert. Mich haben Punk, Underground und Gothik fasziniert.“
Sie haben später dann aber doch für das Modehaus Hermès gearbeitet. Haben Sie sich da eingeschränkt gefühlt?
Gaultier: „Gar nicht! Damals war ich schon älter und bekannt. Monsieur Dumas hatte Geld in meine Firma gesteckt (Anmerkung: Jean-Luis Dumas-Hermès († 2011) war am Unternehmen Gaultier zu 45 Prozent beteiligt). Er wusste also, dass ich das ,Enfant terrible der Mode‘ genannt werde. Ich war genau das Gegenteil von der klassischen Bourgeoisie, die Hermès verkörpert. Ich wollte Jean Paul Gaultier für Hermès machen, es sollte nicht zu sehr von dem alten Stil inspiriert sein. Für mich war das ein neues Abenteuer. Ich wurde zwar bezahlt dafür, aber ich wurde zu nichts gezwungen.“
Würden Sie nochmals für ein großes Haus arbeiten?
Gaultier: „Nein, nie wieder! Was mich noch interessiert hätte, macht jetzt jemand, der es viel besser kann und dessen Arbeit ich sehr bewundere: Hedi Slimane für Saint Laurent. Ich liebe Hedi Slimane. Für mich ist er der Beste.“
Wäre er auch ein geeigneter Nachfolger für Jean Paul Gaultier?
Gaultier: „Wenn jemand meinen Platz einnehmen würde, dann sollte es Hedi Slimane sein, aber er ist leider zu teuer.“ (lacht)
Ist es heute einfacher oder schwieriger geworden, Modedesigner zu werden? Man denke nur an die Möglichkeit, sich per Social Media zu präsentieren…
Gaultier: „Es war schon immer schwer und das ist es heute noch. Ich hatte damals kein Geld, meine Eltern waren arme Leute aus der Mittelschicht. Ich kannte niemanden in der Mode und war schüchtern. Ich habe fünf Kollektionen auf eigene Faust gemacht und musste dafür viel Geld zurückzahlen. Nach drei Jahren hatte ich kein Geld mehr, die Japaner und Italiener haben dann in mich investiert.“
Was würden Sie einem jungen Modedesigner heute raten?
Gaultier: „Er muss das lieben, was er tut. Alles ist möglich, wenn man träumt, ich lebe ja auch noch immer meinen Traum. Junge Leute heute meinen immer, man muss jemanden kennen, um es zu schaffen. Nein, muss man nicht. Ich wusste damals, ich kann nicht damit beeindrucken, wie ich spreche oder aussehe, sondern habe mich nur auf meine Entwürfe und meine Arbeit verlassen. Empfehlungen sind gar nicht so gut, ich mag das auch nicht gerne, wenn mir jemand angeraten wird.“
Was sind ihre ersten Erinnerungen an Mode überhaupt?
Jean Paul Gaultier: „Das Korsett meiner Oma im Schrank. Manchmal hat sie nur Essig getrunken, damit der Magen kleiner wird und sie hinein passte. Und meine Tante in den 1950ern, damals war ich fünf oder so. Sie trug für den Strand ein schulterfreies Kleid und drunter passende Shorts, dazu Schuhe mit Plexiglas Absätzen.“
Verkörpert Conchita Wurst heute das, was Sie in einem Model suchen?
Gaultier: „Ich habe noch nie jemanden, wie sie gesehen. Sie begründet ein ganz neues Genre. Sie ist ein Mann mit Bart, aber zugleich sehr feminin. Sie ist eine unglaubliche Mischung. Mir hat aber immer schon das Andere gefallen. So wie eine Mitarbeiterin von Jean Patou, die 1972 aussah wie Stummfilm-Ikone Louise Brooks. Sie trug damals rot geschminkte Augen, schwarzen Lippen, Kleider aus den 1940er-Jahren und keine Schuhe. Solche tollen, andersartigen Frauen will ich nicht ändern, klassische Schönheiten schon.“
Die Doku „Jean Paul Gaultier arbeitet“ ist am 15. April um 21.35 Uhr auf „arte“ zu sehen.