3. April 2018, 11:50 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Modetrends sind zum Ausprobieren da – auch, wenn’s manchmal weh tut. STYLEBOOK-Autorin Kristina Hellhake hat sich an weiße Stiefeletten gewagt, nach den „Dad Sneaker“ der nächste heiße Anwärter auf den Titel in Sachen „Ugly Shoes“. Oder etwa doch nicht?
„Wir müssen reden!“ sagt meine Schwester, als ihr Blick beim Betreten meiner Wohnung auf die weißen Stiefeletten im Flur fällt. Ich ahne, dass das kein angenehmes Gespräch wird. Und doch ist das noch eine der milderen Stilkritiken, der ich mich in diese Woche stellen muss – eine Woche, in denen ich weiße Stiefeletten auf ihre Alltagstauglichkeit teste.
Modemotto: Weiß ist das neue Schwarz
Die Recherche auf Instagram und einschlägige Trendvorschauen versichern mir: Weiße Stiefeletten sind im Kommen. Ich bin überzeugt und lege für mich fest, dass Stiefel nicht mehr zwangsläufig schwarz oder braun sein müssen. Weiß ist quasi genauso neutral und passt zu allem, Weiß ist das neue Schwarz. Basta. Das Modehaus Balenciaga machte es bereits im Winter 2016 vor und kombinierte auf dem Runway einen karierten Hosenanzug zu weißen Boots – in meinen Augen ein perfekter Look, den ich als Maßstab nehme. Doch funktioniert dieser Look auf den roughen Straßen Berlins? Ich lasse es drauf ankommen.
Zwei bis drei Klicks durch die Onlineshops später habe ich meine Wahl getroffen: Ein Paar weiße Glattleder-Boots sollen es sein. Mit Blockabsatz im Stil der Siebziger und abgerundeter Spitze, die Absatzhöhe beträgt angenehme sechs Zentimeter. Sie passen perfekt, allerdings macht mich der Blick in den Spiegel doch skeptisch: Knittert das Leder zu sehr, glänzt es, sieht es am Ende billig aus?
Weiße Boots vs Berliner Pflaster
Am ersten Tag herrschen überraschend milde Temperaturen, ich entscheide ich mich für ein geblümtes Maxikleid, blickdichte dunkle Strumpfhosen, einen hellen Mantel und die weißen Boots. Ich fühle mich wohl in diesem Outfit, die Boots sind ein Hingucker aber nicht zu dominant, das Weiß findet sich in den Blüten des Kleids wieder. Draußen schaue ich prüfend zum Himmel – sonnig und trocken, ideale Bedingungen. Auf der Straße trifft mich der ein oder andere prüfende Blick der Passanten. Zustimmung, wie ich mir selbst versichere.
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Mittagspause, ich treffe einen Freund. Durchs Fenster wirft er mir einen skeptischen Blick zu. An meinen Stiefeln kann es allerdings nicht liegen, die hat er noch nicht gesehen. Der Umstand, dass ich mich gerade spontan entschlossen habe, mir einen Pony zu schneiden, ist vermutlich nicht gerade zuträglich. Zu viele Veränderungen, der Freund scheint irritiert. Begeisterung sieht anders aus. Mir kommt die neue Kollektion von Chloé aus diesem Frühjahr in den Sinn, Designerin Natacha Ramsay-Levi interpretiert den Trend der weißen Boots mit Nieten und Lederbändern rockiger. Vielleicht die bessere Variante für mich?
Zu spät, das Modell ist gewählt und muss durch den Test. Erleichterung bringt das Gespräch mit den Kollege: Sie freuen sich über meine Recherche und befinden den Look für gut. Sowohl die Höhe als auch das Material überzeugen, ich versende fröhlich Links und Empfehlungen zum Nachshoppen.
Am nächsten Tag kombiniere ich ein schwarzes Kleid zu den weißen Boots. Das Kleid ist schlicht und figurbetont, geht fast bis zu den Knöcheln. Auf einmal herrschen wieder Minusgrade in Berlin, ich umrunde Streusalz und Kieselsteine. Ab und an stoße ich gegen eine Bordsteinkante, in der U-Bahn tritt mir jemand auf die Füße. Das Leder hält es aus. Im Aufzug in die Redaktion bemerkt eine Kollegin mit Blick auf mein Outfit, dass das „schon ein krasser Kontrast“ sei, „diese weißen Stiefel zum schwarzen Kleid“.
Ungewohnte Stilkritik
Abends gehe ich zu einer Verabredung, es regnet. Der Schmutz perlt erstaunlicherweise von meinen Stiefeln ab. Meine Haare haben sich durch den Niederschlag in eine ansehnliche Naturkrause verwandeln – ein Look, der zusammen mit meinen Boots vielleicht ein bisschen zu sehr an die Straßenszenen aus dem 90er-Kultfilm „Pretty Woman“ erinnert. Bei meiner Freundin, die seit vielen Jahren als Stylistin arbeitet, ziehe ich die Schuhe im Hausflur aus. Wir essen gemeinsam, es wird spät. Als ich meinen Mantel hole, finde ich sie kniend neben meinen Schuhen: „Diese Stiefel sind ja auch spannend…,“ setzt sie an. Autsch. Ihre Meinung ist mir wichtig, und mehr will ich von ihr eigentlich gar nicht hören. „Ich teste die Schuhe bloß,“ entschuldige ich mich ungewohnt empfindlich. Schlechte Stilkritiken erlebe ich selten. Zuhause pfeffere ich das Paar in die Ecke. Vielleicht ist es doch hässlich?
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Weiß = Unschuld?
Die nächsten Tage brauche ich eine Pause von meinen weißen Stiefeln und variiere zwischen verschiedenen vertrauten Nuancen von Schwarz und Grau, passend zum Wetter. Ein Blick in die Modehistorie verrät, warum es so viele Vorurteile zu Schuhen in Weiß gibt. Das wohl bekannteste Modell designte der französische Designer André Courrèges im Jahr 1964. Der Meister trug seine Werke auch selbst – als Inspiration dienten ihm utopische Zukunftsszenarien und die aufstrebende Raumfahrt, die er mit metallischen Akzenten in Silber modisch zitierte.
Während seine Stiefel einen eher flachen Absatz hatten und bis zur Mitte der Wade reichten, adaptierte Joanie Labine, Tänzerin und in den 1960er-Jahren erste DJane des etablierten Nachtclubs „Whiskey a Go Go“ in Los Angeles, die Boots wenig später als Leitmotiv für ihre Showeinlagen. Damit war ihr Ruf als Erkennungsmerkmal für Go Go-Tänzerinnen geboren. Die Absätze wurden höher, die Stiefel länger und schließlich zum Overknee-Boot. Aus dem weißem Unschuldslook wurde ein Element der sündigen Nachtgesellschaft.
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Mein Schuhfazit: Nichts für schwache Nerven
Wie sehr dieses Image dem weißen Stiefelchen noch anhaftet, erfahre ich, als mein Freund die Schuhe am Ende der Woche entdeckt. Sein Urteil ist vernichtend, er ordnet den Stil eindeutig dem leichten Gewerbe zu. „Die ziehst du bitte niemals in meiner Gegenwart an“, so noch sein nettester Kommentar zum Thema. Meine Reaktion: Jetzt erst recht! Die Probezeit meiner weißen Lederschuhe war lehrreich, und eines ist sicher: Mit (Stil-)Kritik sollte man umgehen können, entscheidet man sich dafür, ein gesundes Selbstvertrauen ist Grundvoraussetzung für diesen Look. Es empfiehlt sich außerdem, eine kurze Variante zu wählen, die Faustregel: Je höher der Schaft, desto „billiger“ könnte das ganze Outfit wirken. Der Look funktioniert wirklich nur in Kombination mit schlichten Kleidungsstücken, zum Kleid (nicht zu kurz!) oder zu Jeans und Blazer. Destroyed Jeans hingegen sorgen für zu viel Unruhe und wirken in Kombination schnell geschmacklos. Für mich steht fest: Ich bleibe dran.