18. Juli 2023, 15:36 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Seit dem 16. September 2022 ist im Iran nichts mehr, wie es einmal war. Doch in den vergangenen Monaten ist es ruhiger geworden – zumindest hier. Es könnte den Anschein erwecken, die gesamte Lage hätte sich beruhigt. Ein Trugschluss. Wieso Frauen (und auch Männer) trotz Abschaffung der Sittenpolizei auch heute noch gewaltsam von den Straßen gezerrt werden, lesen Sie bei STYLEBOOK.
Seit Mitte September 2022 schreien, weinen und kämpfen die Bürgerinnen und Bürger im Iran so stark wie nie zuvor: um Hilfe, um Unterstützung, um Freiheit. Frauen verbrannten anfangs symbolisch ihre Kopftücher und fordern noch heute den Sturz des Regimes. Nicht nur auf den Straßen Irans, sondern auch weltweit wurde für die Frauenrechte im Iran demonstriert. Auch hier in Deutschland fanden regelmäßig Demonstrationen statt, auf denen sich Iranerinnen ebenso wie solidarische Nicht-Iranerinnen für die Frauenrechte einsetzten. Doch während die Frauen hier nach einer friedlichen Demonstration wieder zurück in ihre Wohnungen kehrten, sah die Realität der Menschen im Iran anders aus, denn: Solche Proteste sind im Iran verboten. Wer dort protestiert, riskiert sein Leben.
Während anfangs (verhältnismäßig) viel über die Situation im Iran berichtet wurde, ist es seit einiger Zeit still geworden. Zumindest für diejenigen, die keine Verbindung in den Iran haben. Doch gerade in den vergangenen Tagen hat sich die Situation erneut zugespitzt. Aber schauen wir uns zuerst an, was überhaupt passiert ist:
Die Wut als Antrieb iranischer Frauen
Wenn Exil-Iraner über das Land, die Kultur, das Essen vor Ort sprechen, ist die Wärme des Landes förmlich zu spüren. Doch das ist ein anderes Iran, ein freies Iran, ein glückliches Iran, ein selbstbestimmtes Iran. Was wir seit Jahrzehnten sehen und hören, könnte davon nicht weiter entfernt sein. Und die Wut und Trauer, die sich all die Jahre angesammelt haben, steht den Menschen ins Gesicht geschrieben, wenn wir uns die Aufnahmen seit Herbst 2022 anschauen. Die Proteste entwickelten sich zu einer feministischen Revolution, bei der Frauen die treibenden Akteure waren und heute immer noch sind.
Die feministischste Debatte, die wir derzeit führen können
Die seither anhaltenden Proteste belaufen sich auf einfache Grundrechte. Frauen im Iran ist es seit 1979 verboten zu singen, zu tanzen, ohne die Erlaubnis ihres Mannes, das Land zu verlassen – oder gar selbstständig die Scheidung einzureichen. Sobald Kinder involviert sind, erhält der Vater das Sorgerecht – die Frau hat kaum eine Chance auf ein faires Gerichtsverfahren. Ebenso haben Ehemänner zu jeder Zeit ein Anrecht auf Sex mit ihrer Ehefrau und dürfen diesen auch unter Gewalt erzwingen. Wird eine unverheiratete Frau zum Tode verurteilt, wird sie vor ihrer Hinrichtung vergewaltigt, da die Tötung einer Jungfrau unter diesem Regime als Sünde gilt.
Was für uns unvorstellbar ist, ist für die Frauen im Iran Alltag. Kontrollen, Razzien und Festnahmen sind gängige Mittel, um sie zu verängstigen und einzuschüchtern. Ungefähr zwei Jahre nach der islamischen Revolution wurden Frauenrechte im Iran schrittweise durch den Staat eingeschränkt. Somit wurde auch die Kleiderordnung strenger: Das gesamte Haar muss seitdem mit einem Hijab – beispielsweise einem Kopftuch – verdeckt werden. Darüber muss ein langer Mantel getragen werden. Schuhe dürfen weder hoch noch auffällig sein.
Zwar lockerte sich das Erscheinungsbild der Frauen auf den Straßen Irans über die letzten zwei Jahrzehnte etwas, jedoch sind nach wie vor Kontrollen und hohe Strafen bei willkürlicher Auslegung der Kleiderordnung üblich. Schon in den letzten Jahren gingen vor allem junge Iranerinnen für ihre Freiheit und Frauenrechte und somit gegen den Staat auf die Straßen, doch nie zuvor waren die Proteste so intensiv, eindeutig und zielgerichtet wie heute.
Die unermüdliche Willenskraft iranischer Frauen
Die staubige Decke, die seit März 1979 über dem Iran liegt, löst sich langsam auf. Das Ausmaß wird täglich deutlicher. Die Frauen machen den Eindruck, als hätten sie nichts mehr zu verlieren. „Entweder Tod oder Freiheit“, rufen sie auf den Straßen und nehmen diese Worte als Motor, um nicht müde zu werden. Und vor allem nehmen sie sich endlich den Raum, der ihnen zusteht.
Zu Verdeutlichung: Nur einen Tag nachdem der Chef der Revolutionsgarde noch härtere Maßnahmen für die Demonstranten versprochen hatte, überfüllten die entschlossenen und furchtlosen Frauen das Unigelände einer der größten Universitäten in Teheran. Es sind solche Bilder, die diese starken Frauen derzeit zu Vorbildern jeder Frauenbewegung dieser Welt machen. Denn wenn die Frauen es unter diesen Bedingungen schaffen, für sich einzustehen und für ihre Rechte zu kämpfen, wer kann sie dann noch aufhalten?
Was ist an diesen Protesten anders?
Während sie ihre Kopftücher verbrannten, ihre Haare abschnitten, unverschleiert auf den Straßen Irans tanzten und für die Freiheit kämpften, erhielten sie Beifall. Beifall von ihren Männern, Brüdern und Vätern, die sich ebenfalls beteiligten und sich für die Selbstbestimmung der Frauen einsetzten. Zudem sind es besonders die jungen Menschen, die auf die Straßen gingen und für ihre Rechte einstanden. Es war Generation Z, die das Leben vor der Revolution nie selbst erleben durfte und unter dieser strengen islamischen Regierung aufwuchs. Besonders ungewöhnlich und bewegend zugleich war die breite Unterstützung auf der ganzen Welt: unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Alter und Schicht. Doch haben die Proteste jetzt, fast 10 Monate nach Protestbeginn, etwas bewirkt? Könnte man meinen. Doch die Frauenrechte im Iran sind gefährdeter denn je.
Die aktuelle Lage im Jahr 2023
Durch die unermüdlichen Menschen, die protestierten, war die Sittenpolizei für einige Zeit von Irans Straßen verschwunden. Zumindest war es das, was der Iran verkünden ließ. Dennoch tauchten zwischenzeitlich neue Videos von aggressiven Männern auf, die in der typischen Uniform der „Moralpolizei“ handgreiflich wurden und Frauen – sowie auch Männer – beschimpften und auf sie einschlugen. Davon ließ sich das Volk nicht beirren. Als Zeichen des stillen Protests ignorierten Frauen weiterhin die Kopftuchpflicht. So tauchten immer mehr Videos auf, die die Straßen Teherans mit spazierenden Frauen ohne Kopfbedeckung zeigten, sowie Pärchen, die Zärtlichkeiten wie Umarmungen oder Küsse austauschten.
Das soll jetzt Folgen haben, wie der Iran verkünden ließ. Um den Protesten „ein Ende zu setzen“ wurde die Sittenpolizei wieder offiziell auf die Straßen geschickt – zu Fuß und mit Autos unterwegs. Nun tauchen neue Videos auf, auf denen Frauen gewaltsam in Autos gezerrt oder auf offener Straße geschlagen werden. Der schreckliche Grund bleibt der gleiche: Sie tragen ihr Kopftuch nicht richtig. Doch die offizielle Rückkehr der Sittenpolizei, die nie wirklich weg war, ist der Regierung wohl nicht genug. Ebenfalls verkündete die iranische Nachrichtenagentur „Isna“ jetzt, dass derzeit neue und härtere Strafen bei Verstößen der Kleiderordnung besprochen werden. In Kürze soll im Parlament über den Gesetzesvorschlag „abgestimmt“ werden.
Es geht nicht um ein Kopftuch
Bei diesen Protesten geht es in keiner Sekunde um die Diskreditierung einer Glaubensrichtung. Es geht um Freiheit, um Selbstbestimmung, um Akzeptanz, um Leben, um Frauen, und um Liebe. Feminismus bedeutet, dass eine Frau selbstbestimmt und frei entscheidet, was sie tun und lassen möchte.
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