21. Januar 2025, 14:21 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Reality-TV erlebt gerade einen regelrechten Boom. Der Grund: einschalten, abschalten. Die angenehm aufbereiteten Inhalte sorgen für einen kurzen Gedankenurlaub, in dem sich keine Dramen im eigenen, sondern in fremden Leben abspielen. Unsere Redakteurin ist überzeugt, dass man von Sendungen wie „Love Is Blind“ Wesentliches lernen kann – und deshalb vom deutschen Format mehr als enttäuscht.
Die Suchtgefahr ist bei „Love Is Blind Germany“ nicht vorhanden. Warum sollte man eine Folge nach der nächsten anschauen, wenn im Prinzip nichts Aufregendes passiert? Vielleicht, damit es schnell wieder vorbei ist und man den Reality-TV-Kandidaten nicht mehr beim Schweigen zusehen muss. Die Produzenten und Editoren haben sicherlich ihr Bestes gegeben, um Dramatik in die Entwicklung der Liebesgeschichten zu integrieren. Trotzdem wird international der fehlende Tiefgang angeprangert.
Übersicht
„Love Is Blind Germany“ zwischen Reality und TV
Reality-TV ist nicht echt – das wissen wir. Der Schnitt verändert den Inhalt, und als Zuschauer baut man sich ein Bild von einem Menschen oder einer Situation aufgrund der selektierten und bunt aneinandergereihten Filmschnipsel selbst zusammen. Heißt: Reality-TV ist mit Vorsicht und gesundem Menschenverstand zu genießen.
Die Gefahr bei solchen Formaten ist nämlich, dass man sie als absolute Wahrheit einstuft. Dabei bilden die Inhalte einen Kosmos ab, der in sich stimmig ist – unsere reale Welt jedoch nicht repräsentiert. Bei „Love Is Blind“ wird damit gebrochen. Die Teilnehmer treten in die „echte Welt“ mit realen Konsequenzen ein – die Verlobungen müssen von Familienmitgliedern und Freunden abgesegnet werden und am Ende steht eine richtige Ehe auf Papier. Dass sich von dieser viele abschrecken lassen, ist verständlich. Trotzdem sorgt gerade die Idee der Hochzeit nach wenigen Wochen beim Zuschauer fürs Prickeln.
So funktioniert „Love Is Blind“
In der Reality-Dating-Show lernen sich Singles in sogenannten „Pods“ kennen, also Kabinen, die durch eine Wand getrennt sind. Diese erlauben es den Teilnehmern, sich emotional näherzukommen, ohne sich zu sehen. Es werden Gesprächen geführt und im besten Falle wird sich verliebt, woraufhin es zu einem Heiratsantrag kommt. Erst dann dürfen sich die frisch vermählten begutachten und in ein Luxusresort reisen. Am Ende soll die Beziehung auf die Probe gestellt werden, indem die Pärchen den Alltag in einer gemeinsamen Wohnung teilen. Nach den verlebten Wochen müssen sich beide Parteien vor dem Altar „Ja“, oder „Nein“ sagen – und somit ausklügeln, ob Liebe tatsächlich blind ist.
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Nur drei von sechs Paaren landen vor dem Altar
Nun ist enttäuschend, dass bei „Love Is Blind Germany“ ungemein viele Angsthasen im Cast sind. In die vorletzte Folge, bei der sich die Pärchen mit Schleier und Fliege das Ja- oder Nein-Wort geben, schaffen es von sechs anfänglichen Verlobungen gerade einmal drei Pärchen. Schlägt der deutsche Rationalismus zu?
Rationale Denke statt Romantik zieht sich ohnehin durch die Folgen, die auf Netflix seit Anfang Januar ausgestrahlt werden. Große Liebesgeständnisse in den Kabinen? Fehl am Platz. Und da muss man bedenken, dass die Schnittmeister sicher die Dramatischsten von allen Szenen gewählt haben.
Wie führe ich eine Beziehung?
Wenig Emotionalität gleich wenig Tiefe, wenig Tiefe gleich wenig Lernpotenzial. Klar ist Reality-TV nicht als Bildungsformat aufbereitet, allerdings empfand ich es oft als hilfreich, in internationale „Love Is Blind“-Staffeln einzutauchen um zu sehen, wie Menschen aus anderen Kulturen lieben, Bindungen eingehen und ihre Beziehungen pflegen.
Beim deutschen Format wird diese Wissbegierde meinerseits nicht gestillt. Es spiegelt sich einzig ein verbreitetes Bild wider: Frauen übernehmen die emotionale Arbeit, während Männer sich passiv von ihnen belehren lassen. Gefühle und Gedanken werden erst kommuniziert, wenn die Partnerinnen intensiv nachhaken.
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Hetero und monogam bis ans Ende unserer Tage
Manchmal empfehle ich Menschen, die in Liebessachen unerfahren sind, sich „Love Is Blind“ anzuschauen. Es ist leichte Kost, mit der man sich schnell neue Perspektiven auf Liebe, Freundschaft und Ehe erschließen kann. Dabei ist jedoch vorausgesetzt, dass ein ständiges Hinterfragen der Sendung stattfindet. Denn: Das Prinzip von der Reality-Dating-Sendung beruht auf einer zutiefst konservativen Ideologie. Heterosexuelle Personen treffen aufeinander und sollen sich „vernünftig“ lieben: monogam und am liebsten ein Leben lang.
Das heißt, wir bewegen uns in einer Welt, in der eine Ehe das Erstrebenswerteste überhaupt ist. Die Paare, bei denen es zu einer Verlobung in „Love Is Blind Germany“ kommt, sind Hanni und Daniel, Alina und Ilias, Jen und Marcel, Shella und Pascal, Shila und Tolga sowie Sally und Medina. Einige der Verbindungen sind von Unsicherheit, Bindungsangst und Überforderung geprägt. Jetzt könnte man sich fragen: Wie überwinden die Paare diese Gefühle (die ihre Daseinsberechtigung haben)?
Kommunikation? Fehlanzeige!
Die Antwort darauf ist: gar nicht. Denn bevor es zu ehrlichen Gesprächen kommt, in denen dem Ansatz der Problemlösung nachgegangen wird, werden Beziehungen gekappt. Das verlobte Gegenüber erfährt erst, nachdem es im eigenen Kopf gebrodelt hatte, vor welche vollendete Tatsachen man es stellt.
Pascal lässt Shella noch während des Griechenlandurlaubes abblitzen. Warum? Das weiß er selbst nicht so richtig. Nachdem Shella ihm Antworten aus der Nase zieht, begreift man allmählich, dass es einfach nicht gefunkt hat. Eine andere Person, die sich für die Nicht-Kommunikation entscheidet, ist Marcel. Der moderne Hippie verschließt sich vor seiner Partnerin und vor uns Zuschauern. Wir bekommen so nie mit, was in ihm vorgeht – unbefriedigend für ein Format, in dem es auf große Gefühle ankommt.
Der Dating-Markt bleibt ein Markt
Bei „Love Is Blind“ soll angeblich von Oberflächlichkeiten abgesehen werden, allerdings meinen Ilias und Tolga, sie besäßen den Luxus der Wahl. Ilias sieht die blonde Hanni mit großen blauen Augen und fängt sofort an, seine Bindung zu Alina mit dem netten Lachen zu hinterfragen; und zwar vor Allen, außer vor Alina selbst.
Als Tolga bemerkt, dass die charakterstarke Shila doch nicht seine Seelenverwandte ist, dauert es nicht lange, bis ihm seine Zweitwahl Hanna wieder in den Sinn kommt. Es wirkt, als würden sich die zwei männlichen Egos auf einem bunten Jahrmarkt befinden, und austesten, welches Gefährt ihnen am meisten taugt. Den Dating-Markt, den die Kandidaten außerhalb des „Love Is Blind“-Kosmos aufgrund seiner Oberflächlichkeit abschätzen, spiegeln sie in der Sendung selbst wider.
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Fazit: Für Liebe sollte man offen sein
Mein Fazit von „Love Is Blind Germany“ ist auch deshalb ernüchternd, da die generelle Bereitschaft, sich zu verlieben – GenZ würde „emotionale Verfügbarkeit“ sagen –, nicht vorhanden ist. Geht es im Profilierung? Follower? Dann wäre die Rechnung für die Kandidaten nicht aufgegangen. Tolgas Followerschaft wuchs auf Instagram von 11 000 auf gerade einmal 14 800 an, Ilias darf statt 450 Follower nun etwa 6 300 zählen und der stille Marcel kommt von 8 000 auf 18 600. (Stand: 16. Januar 2025)
Hätten sich die Kandidaten nicht etwas bemühen können, mit offenen Karten und offenem Herzen zu spielen? Denn: Wenn man schon nichts Wertvolles lernen kann, hätte man zumindest eine ergreifende Showeinlage verdient.