25. Oktober 2024, 16:06 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Die Geschichte der Jäger und Sammler kennen wir alle: In der Altsteinzeit waren Männer die Jäger, Frauen die Sammlerinnen. Sie kümmerten sich um die Kinder, pflückten Beeren. Aber war das wirklich so? Nein, haben Forschungen ergeben. Wie die Forscher das belegten und warum wir es dennoch rund 100 Jahre dachten, hat Carmen Dörfler Ihnen zusammengefasst.
Wenn Sie an die Steinzeit denken, was fällt Ihnen ein? Mammuts? Menschen, die in Höhlen leben? Und dabei kommt Ihnen sicher ein Bild in den Kopf, das den Mann als Jäger, die Frau als Sammlerin und Aufpasserin der Kinder zeigt. Denn von der Richtigkeit dieses Narrativ gingen wir die vergangenen Jahrzehnte aus. Bis jetzt. Denn die Forschung hat nun herausgefunden, dass Frauen sehr wohl auf der Jagd waren – und teilweise sogar besser darin gewesen sein könnten, als die Männer.
Übersicht
Forscher fanden 2018 Jagdwerkzeuge im Grab einer Frau
2018 hat eine Forschungsgruppe um den Archäologen Randall Haas der University of California eine Grabungsstelle in den peruanischen Anden begutachtet. Der Mensch darin soll vor etwa 9.000 Jahren bestattet worden sein. Zu finden waren Knochen eines Erwachsenen sowie ein Satz von Steinwerkzeugen, die dazu dienten, ein Großwild zu jagen, zu erlegen und Fleisch sowie Fell zu verarbeiten.
Das Team war davon überzeugt, hier einen besonders wichtigen Jäger seiner Zeit gefunden zu haben. Doch eine genaue Analyse der Knochen erstaunte die Forscher: Sie stammten von einer Frau. Daraufhin wurden 429 weitere Begräbnisstätten analysiert, an denen Jagdwerkzeuge gefunden worden. Bei 27 davon konnte das Geschlecht bestimmt werden. 11 der gefundenen Überreste gehörten weiblichen Menschen, 16 männlichen. Damit ist die Zahl der bestatteten Jägerinnen beinahe so hoch wie die der Jäger.
Fund wurde äußerst kritisch betrachtet
Diese Erkenntnis kam unerwartet. So unerwartet, dass sie sich ungemein kritischer Befragung stellen musste. So überlegte sich die Forschungsgruppe, ob es sich bei den Werkzeugen um Grabbeigaben handeln könnte, ob Leiche und Jagdwerkzeuge gegebenenfalls nicht zur selben Zeit begraben wurden oder ob die begrabene Frau getötet wurde und es sich bei den Werkzeugen um Mordwerkzeuge handelte.
Das kritisierte laut National Geographic Kathleen Sterling, eine Archäologin an der University of Binghamton, die kein Teil des Studienteams war: „Normalerweise stellen wir diese Frage nicht, wenn wir solche Werkzeuge bei Männern finden. Wir stellen diese Fragen nur, wenn sie unsere Geschlechtervorstellungen infrage stellen. Wir stellen so viele geistige Verrenkungen, um diese Dinge wegzuerklären.“
Auch Pamela Geller, Archäologin an der University of Miami und ebenfalls kein Teil des Studienteams von Haas macht bei National Geographic darauf aufmerksam, dass die Annahme, Frauen seien schon vor Tausenden Jahren eher als Hausfrau und Mutter tätig gewesen, nicht sinnvoll sei. Insbesondere weil durch diese Denkweise Beweise, die für das Gegenteil sprechen, „einfach ignoriert“ würden, weil sie nicht in das heutige Verständnis der Rolle der Frau vieler Menschen passen.
Archäologe Haas selbst gibt das zu, wie National Geopgraphic zitiert: „Ich bin da genauso schuldig wie jeder andere. Ich fand, dass das nach meinem Verständnis der Welt Sinn ergab.“
Wissenschaftlerinnen finden neue Beweise für Jagdtätigkeit von Frauen
Im Jahr 2023 griff die Wissenschaftlerin Sarah Lacy, Anthropologie-Professorin an der University of Delaware, zusammen mit ihrer Kollegin Cara Ocobock die Ergebnisse wieder auf. Beide warfen einen erneuten Blick unter anderem auf Kulturen, die auch heute als Jäger und Sammler leben. Mit der Erkenntnis, dass in 79 Prozent davon Frauen auf der Jagd sind.
So untersuchten die Forscherinnen unter anderem die Agta – indogene Völker auf den Philippinen. Dabei zeigte sich, dass die Frauen der Agta ebenso erfolgreich jagen wie die Männer ihrer Gemeinschaft, auch während ihrer Periode, Schwangerschaft oder während der Stillzeit.
Weiterhin zeigten die Skelette unserer Vorfahren keine Hinweise darauf, dass Frauen in ihren Aktivitäten eingeschränkt waren. Weder bei den Neandertalern noch in anderen frühen Menschengruppen finden sich Verletzungsmuster, die ausschließlich auf Männer als Jäger hinweisen. Im Gegenteil, Frauen und Männer zeigen ähnliche Abnutzungsspuren und Verletzungen, was auf ein gemeinsames Tätigkeitsfeld schließen lässt.
Östrogen unterstützt Frauen als Jägerinnen
Eine große Rolle spielt dabei die neue Erkenntnis, dass Frauen physiologisch besonders gut für Ausdaueraktivitäten geeignet sind. Studien zeigen, dass das Hormon Östrogen eine entscheidende Rolle im weiblichen Stoffwechsel spielt, indem es den Körper dazu anregt, gespeicherte Fettreserven zu nutzen und dadurch Ermüdung verzögert.
Zudem verfügen Frauen über mehr Slow-Twitch-Muskelfasern, die es ihnen ermöglichen, über längere Zeiträume hinweg Energie aufzubringen. Diese ermüden langsamer als Fast-Twitch-Muskeln, von denen Männer mehr haben als Frauen – eine Eigenschaft, die gerade bei der Jagd auf weite Strecken von Vorteil ist. Diese Tatsache widerspricht der Annahme, dass körperliche Unterschiede Frauen davon abgehalten hätten, Jagdstrategien zu entwickeln und erfolgreich zu sein.
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Arbeitsteilung der Urzeit weit flexibler als angenommen
Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse machen deutlich, dass die evolutionären Rollen von Männern und Frauen viel flexibler waren als bisher angenommen. Die Arbeitsteilung der Menschheit war in der Urzeit weniger starr und stärker von der Verfügbarkeit der Ressourcen und den individuellen Fähigkeiten der Gemeinschaftsmitglieder abhängig.
Diese Erkenntnisse bieten eine neue Sichtweise auf die Rolle der Frau in der Evolution und legen nahe, dass die Arbeitsteilung im Zuge der Sesshaftwerdung vor etwa 10.000 Jahren und dem Aufkommen der Landwirtschaft allmählich starrer wurde.
Es ist also an der Zeit, das Bild der „Höhlenfrau“, die den Männern das Feld überlässt, zu überdenken. Frauen waren von Anfang an aktiv an der Nahrungssicherung beteiligt. Ein besseres Verständnis unserer Vergangenheit gibt uns nicht nur ein umfassenderes Bild der frühen Menschheitsgeschichte, sondern stellt auch moderne Geschlechterrollen infrage. Denn die Jagd und damit die Erhaltung unseres Lebens lag nie nur bei den Männern – sie obliegt uns allen.