1. Februar 2024, 14:48 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Häusliche, digitale und sexuelle Gewalt sind auch im 21. Jahrhundert immer noch allgegenwärtig. Die EU hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, härter gegen entsprechende Tatbestände vorzugehen. Eine EU-Richtlinie zu Gewalt gegen Frauen soll deshalb gewisse Delikte einheitlich unter Strafe stellen. Ein Entwurf hierfür liegt vor, doch nun scheitert die Umsetzung ausgerechnet an der Zustimmung einiger EU-Mitgliedsstaaten – darunter auch Deutschland.
Ein Schlag ins Gesicht aller Frauen: Gerade das als so progressiv geltende Deutschland stellt sich bei der Debatte um eine einheitliche EU-Richtlinie zum Schutz von Frauen quer. Worum es bei der Debatte geht, lesen Sie im STYLEBOOK-Artikel.
Worum es bei der Debatte geht
So fortschrittlich wir uns auch einschätzen, Gewalt gegen Frauen ist auch heutzutage in Europa ein brandaktuelles Thema. Häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und Vergewaltigung sei dabei keine Privatsache, so die EU-Kommission im März 2022. Daraufhin veranlasste sie das Aufstellen einer Richtlinie gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Seit ihrer ersten Vorstellung und Ausarbeitung sind mittlerweile zwei Jahre vergangen. Umgesetzt werden kann sie allerdings nicht – und das liegt vor allem an EU-Mitgliedsstaaten, die die Richtlinie blockieren. Darunter auch Deutschland.
Gleichheit und Gleichberechtigung zählen zu den großen Zielen der EU bis 2025. Um Frauen länderübergreifend in allen 27 Mitgliedsstaaten besser vor Gewalt zu schützen, sollten deshalb verschiedene Punkte in die Richtlinie mit aufgenommen werden. Das würde bedeuten, dass gewisse Strafdelikte wie etwa die digitale Gewalt – dazu zählt unter anderem Cyberstalking, Belästigung im Netz sowie das Verschicken von intimen Fotos – EU-weit einheitlich geregelt werden würden.
Tatbestand der Vergewaltigung als zentraler Punkt der Richtlinie
Ein zentraler Punkt der geforderten EU-Richtlinie ist zudem der Sachverhalt der Vergewaltigung. Bislang verfügen nur 13 EU-Staaten über ein Gesetz, welches Vergewaltigungen als „Sex ohne Zustimmung“ definiert. Diese „Nur Ja heißt Ja“-Regelung, wie sie beispielsweise bereits in Spanien oder Schweden angewandt wird, beinhaltet demnach auch Fälle, in denen Frauen durch den Einfluss von Rauschmitteln wehrlos gemacht werden oder in denen ein „Nein“ nicht ernst genommen wird. Die einvernehmliche Zustimmung zum Sex unterscheidet sich dabei maßgeblich von dem Grundsatz „Nein heißt nein“, der in Deutschland seit nunmehr sieben Jahren gesetzlich verankert ist. Dieser setzt nämlich voraus, dass ein Partner sich aktiv gegen körperliche Gewalt wehren muss, damit der unfreiwillige Geschlechtsverkehr unter den Tatbestand der Vergewaltigung fällt – und das, obwohl das Opfer in einer solchen Situation oftmals nicht in der Lage ist, sich physisch oder verbal zu wehren.
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Mit Einführung der EU-Richtlinie gegen geschlechterspezifische Gewalt sollte dem ein Ende gesetzt werden. Sexualisierte Gewalt solle sich laut EU-Kommission durch die einheitliche Regelung besser kontrollieren lassen können.
Deutschland stellt sich bei EU-Richtlinie quer
Die Umsetzung der EU-Richtlinie gestaltet sich jedoch schwieriger als gedacht. Gerade Länder wie Frankreich oder Deutschland, die in der Regel als sehr progressiv gelten, stellen sich quer und blockieren den Gesetzesvorschlag. Die Gründe dafür seien laut Regierung juristischer Natur. So erklärte der deutsche Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), dass eine solche Regelung die Kompetenzen der Europäischen Union überschreiten würde. Demnach dürfen auch nur die als EU-Straftaten eingeordneten Verbrechen von der Europäischen Kommission mit einheitlichen Mindeststrafen geahndet werden. Zum EU-Straftaten-Katalog zählt derzeit grenzüberschreitende Kriminalität wie Terrorismus oder Menschenhandel.
Auch bisherige bundesweite Regelungen zum Tatbestand der Vergewaltigung sind ausbaufähig. So gilt der Ansatz „Nein heißt Nein“ in Deutschland erst seit 2016 und auch die Vergewaltigung innerhalb der Ehe ist erst seit 1998 strafbar.
Warum es einer einheitlichen EU-Richtlinie bedarf
Dass eine einheitliche Regelung und strengere Richtlinien gegen sexualisierte Gewalt dringend notwendig sind, beweisen Zahlen und Fakten zu ebendiesem Thema. Eine über mehrere Jahre durchgeführte Studie der EU-Kommission schockiert dabei mit erschreckenden Ergebnissen:
- Jede dritte Frau in der EU hat bereits physische und/oder sexuelle Gewalt erlebt – jede fünfte davon im eigenen Haushalt
- Jede zweite Frau wurde bereits Opfer von sexueller Belästigung
- Eine von 20 Frauen wurde bereits vergewaltigt
Auch digitale Gewalt betrifft laut der Studie immerhin eine von zehn Frauen. Diese erfolgt zumeist in Form von Online-Belästigung oder dem ungefragten Zusenden intimer Fotos. Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt.
Doch nicht nur diese harten Fakten sprechen deutlich für eine einheitliche Richtlinie zur Regelung von Gewalt gegen Frauen. Die Europaabgeordnete Maria Noichl (SPD) betont, dass es bei der Zustimmung zur EU-Richtlinie um mehr gehe als darum, sexualisierte Gewalt gesetzlich festzuhalten. So gehe es vor allem darum, sich für demokratische, europaweite Standards einzusetzen. Es sei wichtig, dass Deutschland sich hierzu klar positioniere und für die europäischen Werte einsetze.
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100 Frauen schreiben offenen Brief an die Bundesregierung
Die Ablehnung Deutschlands des Vorschlags einer einheitlichen EU-Richtlinie zu Gewalt gegen Frauen sorgte hierzulande für Aufruhr. Die Antwort darauf erfolgte in einem offenen Brief an Marco Buschmann und die Bundesregierung. Über 100 Frauen aus den Bereichen Politik, Kultur und Wirtschaft forderten den Justizminister zum Handeln auf. Das Schreiben wurde von der Forschungs- und Beratungsorganisation Centre for Feminist Foreign Policy angestoßen. „Mit dieser Blockade-Haltung steht der Schutz von Millionen von Frauen vor Gewalt in der EU auf dem Spiel“, heißt es in dem Brief. Zu den Unterzeichnerinnen gehören unter anderem Fernsehmoderatorin Marlene Lufen, Klimaschutz-Aktivistin Luisa Neubauer und Journalistin Düzen Tekkal.
Das offene Schreiben soll den Druck auf die Bundesregierung erhöhen und zum Handeln bewegen. Die Blockade der EU-Richtlinie setze die Vorbildfunktion Deutschlands aufs Spiel und bedeute einen massiven Rückschritt für die Gleichberechtigung von Frauen, heißt es weiter in dem Brief. Gerade bei einem solchen Thema dürften sich die EU-Mitgliedstaaten nicht von bürokratischen Hindernissen aufhalten lassen. Besonders in Zeiten, in denen mehrere EU-Länder radikal rechte Tendenzen aufweisen, sei es demnach wichtig, Stellung zu beziehen und die Blockade noch vor der bevorstehenden Europawahl im Juni 2024 aufzuheben.